In zehn Bundesländern öffnen am Montag, 22. Februar, Grundschulen und Kitas – trotz wieder steigender Infektionszahlen. Der Soziologe Armin Nassehi sagte im Deutschlandfunk, dass die Gesellschaft sich in einer äußerst schwierigen Situation befinde. Einerseits brauche es Öffnungsperspektiven, andererseits gebe es aber eben gleichzeitig auch gute Gründe, diese Perspektiven in Frage zu stellen. Dazu komme noch, dass Kausalitäten gezogen werden, dass also das jetzige Geschehen erst in ein bis zwei Wochen in den Daten zu erkennen sei.
In dieser Situation sei es außerordentlich schwierig, mittelfristige Perspektiven zu formulieren – doch genau das sei wichtig. Man könne zwar keinen klaren Fahrplan vorgeben, aber durchaus Bedingungen nennen, unter denen Öffnungen möglich sind. In dieses Verfahren müsse aber "eine Art Selbstkorrektur-Apparat" integriert sein, der Öffnungen bei sich ändernder Lage in Frage stelle.
Ein Beispiel für eine fehlende mittelfristige Strategie sieht Nassehi im Zusammenhang mit den Schulöffnungen und der Impfpriorisierung. Dass das Lehrpersonal höhere Impfpriorität bekommen soll, begrüßt der Soziologe, denn es sei richtig, bei Schulen und Kitas zuerst zu lockern. Doch unter diesen Annahmen hätte man das Lehrpersonal schon früher bei den Impfungen stärker priorisieren müssen. Es werde immer erst dann reagiert, "wenn bestimmte Parameter bereits so weit sind, dass die Reaktion wahrscheinlich wieder erst Wirkungen in zwei bis drei Wochen hat."
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Philipp May: Brauchen Sie auch dringend eine Öffnungsperspektive?
Armin Nassehi: Diese Öffnungsfragen, die spielen zurzeit eine große Rolle. Wir haben es ja mit einer Paradoxie zu tun, die Sie eigentlich schon auf den Begriff gebracht haben, und Herr Klingbeil natürlich auch in dem Einspieler von vorhin. Einerseits brauchen wir die Öffnungsperspektive; auf der anderen Seite gibt es gute Gründe, diese Öffnungsperspektive in Frage zu stellen – beides mit guten Gründen, beides tatsächlich hervorragend argumentiert. Aber wir befinden uns in dieser Spannung, in der das eine gegen das andere offenbar nicht so leicht auszuspielen ist, und das ist die schwierige Situation, in der wir uns befinden.
May: Was machen wir jetzt? Den Kopf in den Sand stecken?
Nassehi: Natürlich nicht den Kopf in den Sand stecken. Es ist schon richtig, dass man so etwas wie mittel- oder langfristige Perspektiven braucht. Seit ich mich mit dieser Krise beschäftigte, ist das, glaube ich, der Satz, den ich am öftesten gesagt habe, und ich bin da nicht der einzige. Wir haben es wiederum mit zwei Problemen zu tun, die gegeneinander stehen. Auf der einen Seite ist es gerade in diesen Situationen, in denen Kausalität ja gezogen wird – das was jetzt passiert, sieht man in den Daten erst in ein bis zwei Wochen in ihren Wirkungen –, außerordentlich schwierig, mittelfristige Perspektiven zu formulieren.
Auf der anderen Seite ist es durchaus möglich, so etwas wie Bedingungen zu nennen, unter denen Öffnungen möglich sind, aber gleichzeitig auch so etwas wie eine Art Selbstkorrektur-Apparat drin zu haben, wenn die Dinge sich nicht so entwickeln, wie wir sie berechnen, auch darauf reagieren zu können. Wir sind ja gerade heute in der Situation, dass in allen Bundesländern Schulen und Kitas zumindest teilweise öffnen, wir gleichzeitig aber die Erwartung, als das entschieden wurde, dass nämlich die Kurven runtergehen aufgrund wahrscheinlich der Mutationen, die da sind, zumindest nur in einer Seitwärtsbewegung stattfinden. Wie gehen wir jetzt damit um? – Das ist unglaublich schwierig. Und jetzt zu sagen, wir brauchen eine mittelfristige Perspektive, das ist offenbar ein Hinweis darauf, dass uns dafür vielleicht nicht die Informationen fehlen, aber das Geschehen komplexer ist als das, was wir gerade als Reaktion ermöglichen können.
May: Einige stellen deswegen jetzt auch schon wieder das Fixieren auf die Inzidenz-Werte in Frage – nach dem Motto, die Inzidenz-Werte von 35, möglicherweise noch nicht mal die 50, großflächig zumindest, können wir nicht erreichen, also suchen wir uns andere Parameter heraus. Ist das ein gangbarer Weg?
Nassehi: Auch der Satz, den Sie gerade gesprochen haben, enthält eine ganz interessante Kausalität. Weil wir bestimmte Werte nicht erreichen können, müssen wir womöglich andere Parameter verwenden. Jetzt ist die interessante Frage, worin besteht die Kausalität. Müssen wir jetzt uns andere Parameter suchen, damit wir auf Werte kommen, die es uns erlauben, jetzt zu öffnen? Oder geht es um die Frage, angemessene Parameter zu haben, um das Geschehen wirklich verstehen zu können? – Entschuldigen Sie, wenn ich das so grundsätzlich ausdrücke.
"Die Wissenschaft findet ja nicht eine Wirklichkeit vor, die sie eins zu eins objektiv abbilden kann"
May: Ich verstehe schon. Aber sind die Parameter angemessen? Oder ist es tatsächlich die reine Not, weil die Öffnungsperspektive fehlt? Unter den Voraussetzungen, die wir bisher besprochen haben, müssen wir die Voraussetzung ändern?
Nassehi: Der Punkt besteht ja genau darin, dass dieser Zusammenhang zwischen den Parametern, die wir haben, und den Reaktionen etwas ist, der von uns selbst gemacht wird. Die Wissenschaft findet ja nicht eine Wirklichkeit vor, die sie eins zu eins objektiv abbilden kann, sondern sie muss ja Parameter finden, um sich einen Reim auf das Geschehen zu machen. Wir haben im Moment ja zwei Parameter, die eine große Rolle spielen. Der Inzidenz-Wert geht im Moment langsam runter. Wir haben heute Zahlen, die etwas besser sind als die vor einer Woche. Der R-Wert gleichzeitig steigt auf etwas niedrigerem Niveau. Wir wissen aus der Erfahrung, wenn der R-Wert steigt, dass womöglich die Zahlen, die wir hier haben, wieder höher gehen.
Ich bin jetzt selber kein Statistiker und kein Epidemiologe. Als Soziologe kann ich nur darauf hinweisen, dass es unglaublich schwierig ist, mit sich widersprechenden Informationen umzugehen, aber das ist genau das Geschäft, mit dem wir jetzt zu tun haben.
Darf ich noch mal auf die mittelfristigen Perspektiven zu sprechen kommen? – Die Kanzlerin hat, wie ich finde, völlig zurecht gesagt, wenn etwas als erstes geöffnet wird, dann Schulen und Kitas. Vielleicht hätte man in der Impfstrategie dann darüber nachdenken müssen, das Lehrpersonal in beiden Institutionentypen in der Impfpriorität vorher reinzusetzen.
May: Das passiert ja jetzt!
Nassehi: Ja, das passiert jetzt, aber das passiert relativ spät, weil wir immer nur dann reagieren, wenn ganz bestimmte Parameter bereits so weit sind, dass die Reaktion wahrscheinlich wieder erst Wirkungen in zwei bis drei Wochen hat. Das würde ich unter einer mittelfristigen Perspektive verstehen.
May: Wie lange glauben Sie denn, als Soziologe befragt, macht die Bevölkerung dieses Verharren im Lockdown noch mit?
Nassehi: Eine blöde Antwort würde heißen, solange wie es nötig ist. Und sie macht es ja auch tatsächlich immer noch mit. Unruhe entsteht, glaube ich, eher darin, dass so etwas wie inkonsistente Maßnahmen zu beobachten sind, dass, sagen wir mal, unsere Impf-Performance nicht unbedingt preiswürdig ist im Moment. Das muss man ja leider so formulieren. Dass wir zum Teil sehen, dass das, was alle Expertinnen und Experten zurzeit einfordern, nämlich gezielte Maßnahmen, eindeutige Kriterien, wann man wo etwas öffnen kann oder wieder schließen muss, kein konsistentes Bild abgibt.
Deshalb ist es auch für uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die das Ganze im Moment beobachten und Politikberatung machen, so schwierig zu sagen, wir brauchen mal ein vergleichsweise einheitliches – und einheitlich heißt nicht ein Konzept, sondern eines, das so konsistent ist, dass die Menschen auch verstehen können, dass die Dinge womöglich etwas länger dauern werden. Wenn man sich anguckt, was die britische Regierung jetzt angeboten hat im Hinblick auf die Frage, wie Öffnungsperspektiven sind, dann hat man dort zumindest im Moment eine etwas längerfristige Perspektive formuliert. Man muss sich das noch mal genauer angucken. Der Ministerpräsident hat das gerade formuliert. Aber das ist zumindest eine längerfristige Perspektive als das, was wir im Moment in unserer starken Gegenwartsorientierung haben.
"Die Kollateralschäden in der Gesellschaft sind riesengroß"
May: Aber die Diskussionen sind trotzdem die gleichen.
Nassehi: Natürlich sind die Diskussionen die gleichen, und das liegt ja in der Natur der Sache. Wir können jetzt nicht sagen, dass es ein Diskussions-Tool oder ein Kommunikations-Tool gibt, das die Paradoxien dieser Krise einfach außer Kraft setzt. Natürlich gibt es den Wunsch bei den Menschen, übrigens bei mir auch, dass diese Dinge endlich enden, dass es tatsächlich so was wie Öffnungsperspektiven gibt. Die Kollateralschäden in der Gesellschaft sind riesengroß. Aber aus den Schäden lässt sich wiederum kausal nichts schließen auf die Möglichkeit, die Dinge jetzt so zu tun. Eine wirklich verflixte Situation, wenn ich das mal so unakademisch sagen darf.
May: Was würden Sie denn jetzt machen, sollte sich dieser Trend tatsächlich verfestigen, dass die Zahlen steigen, auch aufgrund der Virus-Mutante, wenn Karl Lauterbach tatsächlich recht hat und sagt, wir stehen jetzt am Anfang einer neuen Pandemie? Müssen wir dann tatsächlich notgedrungen alle wieder rein in den Lockdown?
Nassehi: Ja, und das gehört zu Stufenplänen dazu, dass es nicht nur heißt, wenn man bestimmte Dinge erreicht, dann kann man regional gezielt an bestimmten Dingen öffnen, sondern wenn sich die Parameter umkehren, würde das bedeuten, dass man zum Teil auch wieder schließen muss. Wenn ich die Experten auf diesem Gebiet richtig verstehe, das heißt sowohl die Statistiker als auch die medizinischen und virologischen Experten, dann scheint es so zu sein, dass wir erwarten dürfen, dass die Kurven in der nächsten Zeit eher steigen werden.
Wir erleben doch zurzeit, wieviel Energie wir aufwenden müssen, um die Inzidenz-Zahlen auf einem relativ stabilen Niveau zu halten. Daraus kann man ja lernen, dass, wenn wir hier etwas unvorsichtiger werden, sich die Parameter wieder entsprechend verändern werden. Insofern muss man ganz klar sagen: Ja, wenn die Dinge sich negativ entwickeln, werden wir womöglich wieder in Lockdowns hineingeraten.
May: Ist dann die Forderung einer Öffnungsperspektive unter dem Zusammenhang, was Sie jetzt sagen, nicht Augenwischerei? Hat da Jens Spahn nicht recht, wenn er sagt, man kann jetzt gerade in dieser Situation gar keine verlässlichen Pläne machen, keine Drei-Monats- oder keine Sechs-Monats-Pläne, weil man einfach nicht genug weiß, weil die Situation so ist wie sie ist?
Nassehi: Da hat er vollkommen recht. Aber was wir schon machen können, das ist, Bedingungen zu formulieren, Szenarien zu formulieren, das heißt die Bedingungen darüber zu formulieren, dass ab bestimmten Grenzwerten man langsam beginnen kann, um dann mehr Informationen zu haben. Was zum Beispiel oft vorgeschlagen wird sind regelmäßige Zufallsstichproben, das heißt Tests, die, wie Sandra Ciesek uns letztens beigebracht hat, als Selbsttests viel schwieriger sind, als sich das auf dem Papier anhört, damit wir mehr über das Geschehen wissen, und zwar nicht nur flächendeckend mehr, sondern auch ganz gezielt, an welchen Stellen die Infektionen tatsächlich stattfinden. Wenn wir das haben, können wir wahrscheinlich auf einem niedrigeren Niveau der Inzidenz viel gezielter reagieren.
Ich kann alle verstehen und würde das auch stark unterstützen zu sagen, die künftigen Strategien müssen viel gezieltere sein, sie müssen viel differenziertere sein als das, was ein Gesamt-Lockdown bedeutet. Wir hoffen ja, dass in Kombination mit der Impfstrategie sich die Dinge zumindest in den nächsten zwei Monaten etwas entspannen.
"Was sicher nicht funktionieren wird ist, das Virus völlig auszumerzen"
May: Herr Nassehi, was ist, wenn bis zum April zwar die Ansteckungszahlen hochgehen, nicht aber die Todeszahlen, weil die vulnerabelsten Menschen schon größtenteils geimpft sind? Wie kann man den nach Freiheit lechzenden jungen Leuten vermitteln, jetzt müsst ihr trotzdem erst mal wieder in den Lockdown?
Nassehi: Auch das sind ja Parameter, die man sich entsprechend angucken muss. Wie gesagt, ich bin kein Virologe, aber es gibt durchaus welche, die dann voraussagen, wenn dann auch in der jüngeren Generation sehr starke Infektionszahlen zu beobachten sind, dass auch dort mit schwereren Verläufen zu rechnen ist und womöglich auch mit mehr Todesfällen. Aber das gehört zu dem schönen Bereich, den wir gerade definiert haben, über den wir relativ wenig wissen.
Was sicher nicht funktionieren wird ist, das Virus völlig auszumerzen. Das wird wahrscheinlich nicht gehen. Wahrscheinlich brauchen wir genug Energie, um es auf einem sehr niedrigen Niveau zu halten. Der Zusammenhang ist ja der: Je niedriger das Niveau, desto besser die Möglichkeiten, gezielt regional zu reagieren und in anderen Bereichen tatsächlich viel Freiheit zu ermöglichen. Insofern ist das ja bereits Teil der Lösung zu sagen, dass die niedrige Inzidenz einen Sinn hat, nämlich einen Sinn, dass man nicht mehr so starke Maßnahmen dann braucht.
May: Speist sich die Unzufriedenheit auch aus dieser permanent unterschiedlichen Kommunikation der politisch Entscheidenden?
Nassehi: Ja, das ist sicher so. Politische Kommunikation lässt sich nun mal nicht stillstellen. Es werden damit auch politische Fragen gelöst. Jede politische Kommunikation ist auch politisch codiert und nicht nur, was die Sachfragen angeht. Wir haben es durchaus auch mit der Frage zu tun, dass wir zurzeit den vielgepriesenen Föderalismus durchaus auch als eine Quelle von Kakofonie, von unterschiedlichen Wahrheiten, die nebeneinander bestehen, erleben – gerade im Bildungssystem übrigens und nicht nur, was Corona-Fragen angeht. Aber diese Kommunikationsform ist zum Teil ja Quelle auch des Unbehagens, das wir zurzeit beobachten können. Das ist ja fast wie ein Ritual. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten treffen sich mit der Kanzlerin, dann gibt es relativ klare Vereinbarungen, und zwei, drei Tage später gibt es Abweichungen von den Vereinbarungen. Die Menschen haben alles Recht, auch davon abzuweichen. Diese Runde steht gar nicht im Grundgesetz als ein offizielles Gremium. Aber das wirkt natürlich so, als wären dann die Beschlüsse vergleichsweise beliebig, wenn das Commitment nicht hält. Das ist das Problem politischer Kommunikation. Da hätte ich mir auch mehr Konsistenz gewünscht. Aber das ist im politischen System schwer herzustellen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.