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Mathieu Riboulet: "Und dazwischen nichts"
Kritische Wut eines linksradikalen Homosexuellen

Sie waren zehn Jahre jünger als die 68er: Für den bewaffneten Widerstand der älteren Brüder haben sie sich nicht mehr entschieden. Mathieu Riboulets Erzähler beschreibt den Verlust des radikalen Schwungs aus der Sicht des Homosexuellen - ein wütendes Plädoyer wider die Eingriffe von Religion, Moral und Politik in die Wünsche des Körpers.

Von Christoph Vormweg |
    Eine Lesebrille liegt auf einem Buch
    Mathieu Riboulet beschreibt rückblickend die Jahre des politischen und sexuellen Erwachens. (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
    Die offene Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität scheint auf dem deutschen Buchmarkt langsam salonfähig zu werden – gerade wenn die Autoren Franzosen sind. Nach den jüngsten Erfolgen von Edouard Louis und Didier Eribon provoziert die Spätentdeckung Mathieu Riboulet zusätzlich mit radikalen Positionen. Sein sexgeladener Roman "Und dazwischen nichts" führt mitten hinein in die Szene der europäischen Linksradikalen der 1970er-Jahre. Denn:
    "Sex gibt's nicht getrennt von der Welt, das ist eine der Kernerfahrungen von Frauen und Schwulen, das gehört zu den Rohdaten, die Heteromänner sich aneignen müssen. Wir finden sie bei unserer Ankunft vor."
    Mathieu Riboulets Erzähler beschreibt rückblickend die Jahre seines politischen und sexuellen Erwachens. Linksradikal ist er von Haus aus, weil seine älteren Brüder es waren. Durch seine Homosexualität wird er in den 70er-Jahren zum doppelten Außenseiter: von der bürgerlichen Gesellschaft verachtet, verfolgt, verprügelt. So wundert es nicht, dass er sich mit den Opfern des Staates identifiziert – und zwar grenzübergreifend. Auch ein deutscher Student befindet sich unter den Märtyrern, an die er erinnert: Benno Ohnesorg, der 1967 in West-Berlin während einer Demonstration gegen den Schah-Besuch von einem Polizisten erschossen wurde.
    "Und so sterben wir manchmal auf der Straße, wie Hunde, wo doch Frieden herrscht. Benno Ohnesorg, 27Jahre alt. Wenn wir in der Undurchdringlichkeit Afrikas sterben, auf im Chinesischen Meer umher treibenden birmanischen Nussschalen oder in der eisigen Hölle Magadans, sterben wir Menschen nicht wie Hunde, wir sind Hunde und als solche sterben wir. Sterben wir hingegen da, wo der westliche Geist sein Gravitationszentrum festgemacht hat und der ganzen Welt seinen Takt aufzwingt, sterben wir wie Hunde, weil wir Menschen sind und Menschen nicht abgeknallt wie Hunde auf der Straße, sondern mit geöffneten Händen in ihrem Bett sterben. Die Stunden schlagen nicht für alle gleich."
    Das Erbe der radikalen älteren Brüder verraten?
    "Und dazwischen nichts" - der Titel von Mathieu Riboulets Roman ist Teil eines Zitats von Ulrike Meinhof. Nach dem Tod Benno Ohnesorgs sagte die Journalistin, man sei entweder "ein Teil des Problems oder ein Teil der Lösung". Dazwischen gebe es nichts. Hier deutete sich bereits Ulrike Meinhofs Weg in den bewaffneten Widerstand der Roten Armee Fraktion an. Auch der Erzähler befürwortet die gezielte Gewalt gegen den Staat in den 70er-Jahren: als Terrorismus nicht gegen Unschuldige, sondern gegen Täter. Denn in der Bundesrepublik saßen viele Alt-Nazis an den Schaltstellen der Macht, in Italien Ex-Faschisten, in Frankreich ehemalige Nazi-Kollaborateure. Umso mehr quält ihn die Frage, warum seine in den Jahren um 1960 geborene Generation den Eigenmächtigkeiten der Regierenden kaum noch etwas entgegengesetzt hat. Hat sie das Erbe der radikalen älteren Brüder verraten?
    "Ich mache keine Geschichtsschreibung, ich mache auch keine Geschichten. Ich fühle mich der Zwischenzeit verpflichtet, in der sich all das vor meinen Augen abspielte, und dem Weg meiner älteren Brüder fühle ich mich ebenso verpflichtet, das, was ich geworden bin und die von mir erwählte Aufgabe, Sätze zu bilden, um zu versuchen, klarzusehen, verpflichten mich zu präzisieren, wo ich heute stehe, wo ich damals stand, etwas zu sagen über das ungeheure Durcheinander, in dem sich das alles mir präsentierte."
    Wonnen der hemmungslos ausgelebten Sexualität
    Waren es die Wonnen der hemmungslos ausgelebten Sexualität, die ihn vom politischen Engagement ablenkten? Oder der Ausbruch der Seuche AIDS? Immer wieder kreist der Erzähler um die Schlüsselmomente seines Lebens: das erste, aber nicht ausgelebte Begehren; seine Reise 1972 mit den Eltern ins realsozialistische Polen; die sexreichen Monate im Kreis italienischer Autonomer, als der Politiker Aldo Moro entführt wurde; den AIDS-Tod seines ersten Freundes. Mit seinem Blick zurückwill er die 70er-Jahre so zeigen, wie er sie selbst erlebt hat, und nicht – wie andere Schriftsteller - als Jugendsünde ironisieren.
    "Und dazwischen nichts" ist ein höchst streitbarer Roman, ein wütendes Plädoyer wider die Eingriffe von Religion, Moral und Politik in die Wünsche des Körpers. Mathieu Riboulets Prosa changiert zwischen essayistischen und erzählenden Passagen. Immer wieder gipfelt sie in pulsierenden Langsatzgebilden, die Karin Uttendörfer mit großer Präzision ins Deutsche übertragen hat. Der Erzähler wirkt wie eingesperrt in seinen Erinnerungstaumel, weil er nichts mehr ändern kann. Deshalb auch seine oft vulgären Wutausbrüche und die penetrante Wiederholung bestimmter Bilder - wie dem der Staatsgegner, die "wie Hunde abgeknallt" wurden. Genauso wie die Sex-Szenen wirken sie überdosiert. Doch das ändert nichts daran, dass dieser Roman mit kritischer Wut und in hochkarätiger Prosa die Sehnsüchte und politischen Träume benennt, die in Westeuropa unter dem Teppich des Wohlstands erstickt worden sind.
    Mathieu Riboulet: Und dazwischen nichts
    Aus dem Französischen von Karin Uttendörfer. Matthes & Seitz, Berlin 2017, 210 Seiten, Preis: 22 Euro