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Matt Bai
All the truth is out: The Week Politics Went Tabloid

Von Gregor Peter Schmitz |
    Müssen Politiker Übermenschen sein? Dürfen Bewerber für die höchsten Ämter im Staat sich nicht einmal die kleinste Verfehlung erlauben, da ihnen diese gleich als Charakterschwäche ausgelegt wird? Die USA scheinen sich zumindest bei der Auswahl ihrer Präsidenten für so strenge Kriterien entschieden zu haben. Längst leuchten die amerikanischen Medien jedes private Detail im Leben der Kandidatinnen und Kandidaten aus – mit einer Erbarmungslosigkeit, die selbst den langjährigen Reporter von New York Times und Yahoo News, Matt Bai, verblüfft, wie er in der Einleitung zu seinem Buch "ll The Truth Is Out" gesteht:
    "Was ist mit dem altmodischen politischen Journalismus passiert? (...) Wo ist, verdammt noch mal, die Menschlichkeit geblieben? (...).Dieses Buch ist mein Versuch, diese Fragen zu beantworten – oder zumindest Leute dazu zu bringen, sie zu stellen. Es ist eine Geschichte des Moments, in dem die Welten des öffentlichen Dienstes und der Boulevardkultur, die sich immer stärker angenähert hatten, endgültig kollidierten – und es ist die Geschichte eines Mannes, der sich in diesem Zusammenprall verfing, was Auswirkungen auf den Zustand einer ganzen Nation hatte."
    Bai zufolge war es eine Woche im Mai 1987, als der politische Journalismus in den USA seine Moral verlor: Gary Hart, ein aufstrebender Demokrat, will Ronald Reagan im Weißen Haus nachfolgen. Der charismatische Senator aus Colorado hatte mit seiner idealistischen und intellektuellen Art viele Hoffnungen geweckt. Doch dann berichten Reporter des "Miami Herald" über eine angebliche außereheliche Affäre und sezieren Harts Verhältnis zu der blonden Donna Rice minutiös wie einen Mordfall. Hart muss seine politischen Ambitionen rasch beerdigen – und sein spektakulärer Niedergang war laut Bai auch eine journalistische Zeitenwende, wie der Buchautor im TV-Sender PBS erklärt:
    "Manchmal passieren große Veränderungen sehr schnell. Viele Entwicklungen in den 1980er-Jahren haben die Medien und die Gesellschaft stark verändert. Echos des Watergate-Skandals waren noch zu spüren. Und es fielen Entscheidungen, die den Umgang mit Präsidentschaftskandidaten fundamental verändern sollten."
    Bai schildert akribisch die Details der Hart-Kontroverse, die nach heutigen Maßstäben beinahe alltäglich klingen, damals jedoch die politische Landschaft der USA aufwühlten. Reporter lauerten dem Senator vor seiner Haustür auf und er musste als erster US-Politiker überhaupt öffentlich die Frage beantworten, ob er seine Ehefrau betrogen habe. Es waren Tabubrüche, deren Folgen Bai zutiefst negativ beurteilt.
    "Seit dem Hart-Skandal veränderte sich die Berichterstattung weg von Ideen und Weltanschauungen hin zur Aufdeckung von Lügen (...). Alles konzentriert sich seither auf Skandale und dadurch reduziert sich die Definition des Lebens eines Menschen auf sehr eng definierte Ausschnitte und Momente (...). Das Problem des modernen politischen Journalismus liegt darin, dass wir uns so sehr auf die schlimmsten Momente im Leben der Politiker konzentrieren."
    Matt Bais Buch wurde in den USA nach Erscheinen heftig diskutiert. Ihm wurde vorgehalten, Hart zu glorifizieren, dessen Privatleben ja offenbar kompliziert war – außerdem beute er mit seinem Buch die Affäre ein weiteres Mal aus. Und ist ein tadelloser Charakter nicht zudem ein wesentliches Kriterium für die Auswahl von Politikern? Bai stellt das gar nicht in Zweifel. Doch seine Analyse der Hart-Kontroverse überzeugt, auch weil er seine eigenen Bedenken glaubwürdig artikuliert - etwa die Sorge, sich selber in der Frage zu verheddern, was an der Affäre, über deren Details Hart und die beteiligte Frau bis heute schweigen, wirklich dran gewesen ist:
    "Als wir am matt erleuchteten Tisch saßen, fiel mir ein, dass ich nun genauso handelte wie all die älteren Journalisten vor mir, die mithalfen, unsere politische Kultur so herunter zu ziehen (...). Ich würde Hart sagen, dass ich eigentlich nicht darüber reden wolle, aber dass meine Leser dies von mir erwarteten und eine Antwort verdienten. Ich müsste sagen, dass ich wirklich keine Wahl hätte, als der Story auf den Grund zu gehen (...) Aber natürlich hatte ich eine Wahl. Wir alle haben eine."
    Endet das Buch deswegen optimistisch? Auch mit Blick auf Sexsünder wie Bill Clinton, dem die Amerikaner eine zweite Chance gaben? Nein, Bais Fazit ist im Gegenteil erschreckend pessimistisch: Er glaubt, dass sich die Auswahlkriterien für politische Erfolgsfiguren schlicht geändert haben. Kandidaten, die moralisch glaubwürdig seien, würden nicht mehr in die Politik gehen, weil sie die intime Durchleuchtung verhindern wollten. Übrig und erfolgreich blieben hingegen diejenigen Kandidaten, die keine Skrupel mehr kennen und schlicht lügen oder Ausflüchte erfinden, wenn eine ihnen unangenehme Wahrheit an das Licht kommt.
    Buchinfos:
    Matt Bai: "All the truth is out: The Week Politics Went Tabloid", Alfred A. Knopf Verlag, 288 Seiten, ISBN: 978-0-307-27338-3