Die Geschichte beginnt mit einem Schneeball. Den wirft der 13-Jährige Jori auf ein vorbeifahrendes Auto und läuft dann ins Haus. Der Fahrer steigt aus, tritt wütend die Wohnungstür ein. Die Vermieterin setzt Joris Mutter Arleen mit ihren zwei Jungs auf die Straße. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihre Wohnung verlieren. Und es wird nicht das letzte Mal sein.
Das ist die hochsymbolische Eingangsszene von "Zwangsgeräumt". Das Buch von Matthew Desmond, Soziologe an der Princeton-Universität, erschien 2016 in den USA und wurde von der Kritik hochgelobt.
Im amerikanischen Rundfunk NPR erläutert Desmond seine Motivation.
"Im Vergleich zu anderen prosperierenden Demokratien sind die Tiefe und das Ausmaß der Armut in Amerika einzigartig. Ich wollte das verstehen, und ich wollte vor allem verstehen, welche Rolle Wohnraum dabei spielt. Ich dachte, ich mache das am besten, indem ich mit den Menschen lebe, die aus ihren Wohnungen geworfen werden."
"Im Vergleich zu anderen prosperierenden Demokratien sind die Tiefe und das Ausmaß der Armut in Amerika einzigartig. Ich wollte das verstehen, und ich wollte vor allem verstehen, welche Rolle Wohnraum dabei spielt. Ich dachte, ich mache das am besten, indem ich mit den Menschen lebe, die aus ihren Wohnungen geworfen werden."
Das tat er, knapp zwei Jahre lang. Mietete sich in einem Trailer-Park und später in einem schwarzen Ghetto in Milwaukee ein, einer Stadt in Wisconsin im Mittleren Westen der USA. Er begleitete acht Familien, schwarze und weiße, junge und alte, Arbeiter und Akademiker. Unter ihnen ist Arleen, alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen. Und Lamar, dem die Füße abfroren, als er eine Zeitlang obdachlos und auf Crack war. Oder Scott, ein ehemaliger Krankenpfleger, der wegen seiner Schmerzmittel-Sucht seinen Job verlor.
Zwangsräumungen als Alltagsphänomen
In Milwaukee lebt jeder vierte Einwohner unterhalb der Armutsgrenze. Jeder achte wird aus seiner Wohnung geworfen.
"It's not just in Milwaukee. It's in San Francisco and New York. It's in Indianapolis."
Doch das sei nicht nur in Milwaukee so, sondern auch in San Francisco und New York und Indianapolis, sagt Desmond. Sein Buch erzähle eine tiefere amerikanische Geschichte.
"...it tells a deeper American story."
Doch das sei nicht nur in Milwaukee so, sondern auch in San Francisco und New York und Indianapolis, sagt Desmond. Sein Buch erzähle eine tiefere amerikanische Geschichte.
"...it tells a deeper American story."
Schätzungen gehen davon aus, dass Millionen von Menschen in den USA jedes Jahr durch Zwangsräumungen ihr Zuhause verlieren. Weil es zu wenige Sozialwohnungen gibt, sind immer mehr Menschen am unteren Rand der Gesellschaft gezwungen, Wohnungen auf dem freien Markt zu mieten. Doch die sind rar, vor allem in den Städten und seit der Rezession von 2007, als viele Amerikaner ihre Häuser verloren und zu Mietern wurden.
Die steigende Nachfrage treibt die Preise nach oben. Desmonds Protagonisten zahlen 70, 80, manchmal 90 Prozent ihrer mageren Einkünfte für Wohnungen, die oft in üblen Zustand sind und gegen die Bauvorschriften verstoßen.
Doch die Vermieter sitzen am längeren Hebel, schreibt Desmond:
"Das Gesetz verbot es, dass Vermieter sich an Mietern rächten, die das Department of Neighborhood Services [also die lokale Bauaufsicht] gerufen hatten. Aber Vermieter hatten jederzeit die Möglichkeit, Mieter wegen Zahlungsrückstand oder anderer Verstöße auf die Straße zu setzen."
"Das Gesetz verbot es, dass Vermieter sich an Mietern rächten, die das Department of Neighborhood Services [also die lokale Bauaufsicht] gerufen hatten. Aber Vermieter hatten jederzeit die Möglichkeit, Mieter wegen Zahlungsrückstand oder anderer Verstöße auf die Straße zu setzen."
Arleen und ihren Söhnen bleiben von monatlich 628 Dollar Sozialhilfe - nach Abzug der Miete - noch zwei Dollar pro Tag zum Leben. Da wird der Mietrückstand schnell chronisch, der Weg in die Schuldenspirale zwangsläufig. Wem einmal eine Räumungsklage zugestellt wurde, der verliert den Anspruch, irgendwann eine Sozialwohnung zu bekommen.
Düstere Spirale des Abstiegs
Desmond mischt in seinem Buch Statistik mit Reportage, Analyse mit Milieustudie. Er begegnet seinen Protagonisten mit Empathie, aber er überhöht sie nicht. Der Autor begleitet Umzugsunternehmen und Sheriffs, die auf Zwangsräumungen spezialisiert sind. Es sind verstörende, rohe, oft gewaltsame Szenen:
"Bei diesem Job bekam man einiges zu sehen: den Typen mit zehntausend Audiokassetten voller Aufnahmen von UFO-Aktivitäten, der immerzu "Ist alles in Ordnung! Ist alles in Ordnung!" schrie; die Frau mit Einmachgläsern voller Urin; den Kerl, der im Keller wohnte, während oben seine Meute von Chihuahuas über das Haus herrschte. Erst vor einer Woche hatte ein Mann Sheriff John darum gebeten, ihm noch ein paar Minuten zu geben. Dann schloss er die Tür hinter sich und jagte sich eine Kugel in den Kopf."
Besonders eindringlich beschreibt Desmond, welche Auswirkung die Auflösung eines Zuhauses auf Kinder hat.
"Ich werde nie eine Zwangsräumung vergessen, bei der ich die Sheriffs begleitet habe. Wir sind in ein Haus gegangen, in dem nur Kinder waren. Nur Kinder. Die Mutter war vor ein paar Monaten gestorben, und die Kinder hatten einfach weiter in dem Haus gelebt. Es war Winter, es regnete, und die Möbelpacker räumten die Habe der Kinder auf die Straße."
Zwangsräumungen, betont der Autor, treiben sozial schwache Familien in eine düstere Spirale des Abstiegs, setzen einen toxischen Kreislauf aus Entwurzelung und Armut in Gang. Die Dauerschleife aus Zwangsräumungen und Wohnungssuche führt häufig zum Verlust des Arbeitsplatzes. Für Kinder sinkt die Chance gegen Null, den Teufelskreis der Armut durch Schulbildung zu durchbrechen. Arleens Sohn Jori zum Beispiel wechselte in zwei Schuljahren fünfmal die Schule.
Desmonds Schlussfolgerung:"I'm now convinced that eviction is a cause, not just a condition of poverty." Zwangsräumungen seien eine Ursache, nicht nur ein Zustand von Armut.
Im letzten Kapitel nennt Desmond mögliche Lösungsansätze. So könnten staatliche Wohnungsprogramme einen Teil der Mieten übernehmen, die einkommensschwache Menschen auf dem freien Markt zahlen. Doch das Konzept ist nicht neu - und die Hoffnung des Autors, damit den Kreislauf tiefsitzender Armut zu durchschlagen, wirkt etwas naiv.
"Zwangsgeräumt": Matthew Desmonds Studie verstört, beunruhigt und schreckt auf. Als Feldforscher ist Desmond ganz nah dran an seinen Protagonisten; sein Blick ist ohne Filter, dokumentarisch und manchmal auch radikal subjektiv. Sein Ziel hat der Autor in jedem Fall erreicht: das Wesen der Armut in Amerika zu durchleuchten - und die Schlüsselrolle, die Wohnraum dabei spielt.
Matthew Desmond: "Zwangsgeräumt. Armut und Profit in der Stadt"
Ullstein Verlag, 544 Seiten, 26 Euro.
Ullstein Verlag, 544 Seiten, 26 Euro.