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Matthias Bormuth: "Die Verunglückten"
Vier schwierige Tote

Jean Améry, Ingeborg Bachmann, Uwe Johnson und Ulrike Meinhof sind seit Jahrzehnten tot. Doch ihre Lebensgeschichten bewegen bis heute die Gemüter – nicht zuletzt auch wegen ihres gewaltsamen Ablebens. In Matthias Bormuths Buch sind ihre Lebensläufe als eine Art moderner Passionsgeschichten beschrieben.

Von Walter van Rossum |
Der Medizinethiker und Kulturwissenschaftler Matthias Bormuth
"Geschundene Seelen" - Matthias Bormuth zu vier Prominenten und ihrem vorzeitigen Ende (imago stock&people / Horst Galuschka)
Im Oktober 1978 starb der Schriftsteller Jean Améry in einem Salzburger Hotel an einer Überdosis Schlaftabletten. In gewisser Weise hatte Améry den Freitod in seinem Buch "Hand an sich legen" angekündigt. Fünf Jahre zuvor, im Mai 1973, fand man die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann tot in ihrem Bett. Vermutlich war sie mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen. Freunde und Vertraute vermuteten eher, Bachmann habe den Preis für ihr exzessives Leben bezahlt. Ähnlich liegt der Fall bei dem Schriftsteller Uwe Johnson, der im Februar 1984 in seinem Haus in England starb und erst knapp drei Wochen später aufgefunden wurde. Vermutlich starb er beim Versuch, eine dritte Flasche Wein zu entkorken, an einem Herzinfarkt. Johnson hatte sich buchstäblich zu Tode gesoffen. Die Mitbegründerin der RAF, Ulrike Meinhof, fand man im Mai 1976 erhängt in ihrer Zelle im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Stuttgart Stammheim. Bis heute kursiert der Verdacht, dass es gar kein Selbstmord gewesen sein konnte. Vier Zeitgenossen, die in der Chronologie der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle spielen und alle ein gewaltsames Ende finden.
Säkulare Passionsgeschichten
Das ist für Matthias Bormuth die Klammer, die Améry, Bachmann, Johnson und Meinhof verbindet: Die Verunglückten.
"Die (…) Persönlichkeitsprofile geben in allen Fällen suizidale Züge zu erkennen, die erlauben, von säkularisierten Passionsgeschichten zu sprechen. (…) Was jenseits aller Details sichtbar werden kann, sind jeweils eigentümliche Strukturen, in denen das eigene und allgemeine Unglück erlebt wird."
1975 erfuhr Uwe Johnson, dass seine Frau Elisabeth seit über einem Jahrzehnt ein Verhältnis mit einem tschechischen Musikwissenschaftler hatte. Damit nicht genug: Johnson behauptete obendrein, jener tschechische Geliebte sei Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen und seine Frau mithin Informantin in dessen Diensten. Das erwies sich später als paranoide Phantasie einer geschundenen Seele. Johnson hat diese Untreue als Verrat und schmerzhaften Bruch in seinem Leben erlebt. In zwei Texten verarbeitete er die Erfahrung literarisch. Zunächst erklärte er im Rahmen seiner Frankfurter Poetikvorlesungen 1979, dass er wegen dieser Ehekrise an einer Schreibblockade leide. 1981 erschien dann die Kurzgeschichte "Skizze eines Verunglückten" – eine Erzählung, die autobiographische Momente aufnimmt und auch vom eigenen Liebesverrat erzählt, aber in zentralen Punkten auch über seine eigene Lebensgeschichte hinausgeht.
Komplexität der Lebensgeschichten verschüttet
Die sonderbare Rede von "Verunglückten" entstammt also einer literarischen Fiktion, die Matthias Bormuth kurzerhand zum Leitmotiv seiner Studie macht. Sie soll den Zusammenhang zwischen Améry, Meinhof, Bachmann und Johnson stiften. Allerdings scheint es ausgesprochen zweifelhaft, ob Uwe Johnson sich selbst als "Verunglückten" verstanden hat und ob diese Zuschreibung überhaupt sinnvoll ist.
Und auch auf Jean Améry lässt sich dieser Begriff kaum anwenden.
Améry litt an den Traumatisierungen seiner Jahre im KZ, auch am eigenen Überleben, und war zudem in den letzten Jahren seines Lebens physisch erheblich angeschlagen. Sein Leben war schwer, Améry hat viel daraus gemacht. Er wurde zu einem hochangesehenen Publizisten, der die Selbstwahrnehmung der Bundesrepublik mitprägte. Am Ende fehlte wohl einfach die Kraft zum Weiterleben. Und darf man Ulrike Meinhof deshalb als Verunglückte betrachten, weil diese luzide und hochsensible Frau in der politischen Gewalt eine Lösung gesucht hat? Bei Lichte betrachtet ist Bormuths Leitmotiv fast schon eine Unverschämtheit, eine dümmliche Trivialisierung hochdramatischer Lebensläufe von Menschen, denen offenbar das vermeintliche Glück, im hohen Alter sanft zu entschlafen, versagt blieb.
Über die vier Helden seines Buches sind schon Dutzende von Büchern und Hunderte von Essays geschrieben worden. Bormuth fügt dem nichts Neues hinzu - im Gegenteil: Er verschüttet die Komplexität der Lebensgeschichten zu trostlosen Krankenakten in einer oft komplett verschwurbelten Sprache mit Beweisdrang, aber ohne tieferen Gedankengang. Bleibt die Frage, was soll diese müßige Begriffsübung auf Kosten dieser schwierigen Toten? Wollte dieser Kulturwissenschaftler seine Zunft mit neuen Interpretationsmustern beglücken?
Der heimliche Held des Buches
Doch man spürt ein gewisses normatives Engagement des Verfassers beim Errichten dieser Leuchttürme des Unglücks. Neben den Verunglückten durchgeistert das Buch eine Art Gegenheld, der große Unverunglückte: Hans Magnus Enzensberger. Nach seiner fundamentalistischen Episode als Revolutionär Ende der 60er Jahre habe er zu einer Haltung ironischer Distanz gefunden, einem heiteren Darüberschweben.
"In allen Fällen fehlt der befreiende Ausgang ins Leben, den Hans Magnus Enzensberger bis heute virtuos beherrscht. (…) Er verteidigt die Lebenskünstler, die mit Leichtigkeit und Wendigkeit begnadet sind: 'Sind Anpassung, glückliche Zufälle, Kompromisse und mehrdeutige Entscheidungen von vorgestern? Kann man nichts von ihnen lernen? Enzensberger ist eine solche glückliche Natur.'"
Und wie zur Belohnung erschien Bormuths Abhandlung pünktlich zu Enzensbergers 90. Geburtstag. Zum Dank dafür, dass er seit Jahren Drucksachen veröffentlicht, die kaum einen ernsthaft interessieren, wurde er anlässlich seines runden Jahrestages als "literarischer Tausendsassa" gefeiert. Man mag es als Problem oder Leistung sehen: Seit Ausbruch seines postmodernen Grinsens hat Enzensberger eben nur weise geschwebt. Sieht man mal von seinem missionarischen Rückfall ab, als er uns 1990 im Spiegel zum Kreuzzug gegen Saddam Hussein bekehren wollte. Genaueres verrät uns Matthias Bormuth allerdings nicht über seine Liebe zu seinem heimlichen Helden. Alles eine Sache der Dialektik: Enzensbergers Glück macht Jean Améry, Ingeborg Bachmann, Ulrike Meinhof und Uwe Johnson zu Verunglückten - und umgekehrt. Doch der heitere Konformismus eines Enzensbergers wird uns nicht von der Sünde des Leidens und den Kreuzgängen des Lebens erlösen.
Matthias Bormuth: "Die Verunglückten. Bachmann,
Johnson, Meinhof, Améry".
Berenberg Verlag. Berlin 2019.
248 Seiten, 25 Euro