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Matthias Nawrat: "Der traurige Gast"
Zwischen Migration und Heimaterkundung

In seinem vierten Roman erzählt Matthias Nawrat vom Migration und darüber, was das Ankommen in der Fremde mit den Menschen macht. Entstanden ist ein Berlin-Roman mit melancholischer Schattierung, in dem der Autor Begriffe wie Lebensplanung und Kontinuität ad absurdem führt.

Von Christoph Schröder | 28.01.2019
    Eine Frau und ein Mann gehen am 18.04.2015 in Berlin im Licht der untergehenden Sonne an der East Side Gallery spazieren.
    Gespräche und Begegnungen in Berlin: Nawrat beschreibt in seinem vierten Roman eine Reihe von Verlusten, Transiterfahrungen und Bemühungen um ein Ankommen. (picture alliance / dpa / Paul Zinken)
    Matthias Nawrats Roman ist kein Buch, das seine Leser mit offenen Armen empfängt. Es dauert eine Weile, bis ersichtlich wird, dass es hier nicht um einen süffig erzählten Plot geht, nicht um die großen Bögen einer stringenten historischen Erzählung.
    Vielmehr ist das Ich, das in "Der traurige Gast" durch das Berlin der Gegenwart streift, eine flackernde, schwer zu fassende Instanz. Sich scheinbar erratischen Begegnungen aussetzend, saugt dieses Ich wie ein Schwamm Wahrnehmungen und Lebensläufe auf. Das Ich ist, so viel erfahren wir, Schriftsteller, hat bereits drei Bücher veröffentlicht und stammt aus Polen. Die Übereinstimmungen mit dem Autor selbst sind allerdings nur von Bedeutung, weil sie den sozialen und historischen Raum markieren, in dem der Erzähler sich bewegt.
    Der Schriftsteller Matthias Nawrat sitzt auf dem Blauen Sofa der Frankfurter Buchmesse 2015. (undatiert)
    Matthias Nawrat (picture alliance / Uwe Zucchi)
    "Der traurige Gast" ist ein Buch, das über die Logik und die Linearität von Geschichte und auch über deren vermeintliche Kausalität reflektiert. Das Schriftsteller-Ich steht eines Tages auf der Straße vor einem polnischen Lebensmittelgeschäft in Berlin und beginnt zu denken:
    "Die Zeit, so dachte ich in diesem Augenblick, ist zirkulär, faltet sich, wenn ich will, über sich selbst, sodass mein jetziges Leben in Berührung kommt mit dem schon vergangenen und gleichzeitig die Unendlichkeit in Berührung kommt mit ihrer eigenen Unmöglichkeit, während wir auf diesem Planeten, in dieser Stadt, in diesem Weltjetzt durchs Weltall fliegen."
    Eine Reihe von Verlusten
    Diese Passage lässt sich als Poetik des gesamten Romans begreifen. Sie wird von Nawrat Stück für Stück mit Leben, mit Geschichten gefüllt, die sich nicht wie ein Puzzle zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Vielmehr stehen sie paradigmatisch für eine Reihe von Verlusten, Transiterfahrungen und Bemühungen um ein Ankommen.
    Die Hauptfigur des ersten von drei Teilen des Romans ist Dorota, eine polnische Architektin, die der Ich-Erzähler über eine Zeitungsannonce kennenlernt. Dorota verlässt ihren Stadtteil Schöneberg niemals und auch ihre Wohnung nur selten. Sie, deren Großvater den Nationalsozialisten zum Opfer fiel, ist einst in die Bundesrepublik emigriert, um einen evangelischen Theologen zu heiraten. Neben ihrer Ehe hatte sie stets andere wechselnde Liebschaften und ist letztendlich trotzdem einsam geblieben.
    Vor diesem Hintergrund hat Dorota eigene Parameter für biografische Kontinuitäten entwickelt: Wie lange er denn die Wohnung, die sie angeblich für ihn umgestalten solle, behalten wolle, fragt Dorota den Erzähler. Was lange denn in ihrer Zeitrechnung bedeute, entgegnet er. Für immer lautet ihre Antwort.
    Es nimmt ein trauriges Ende
    Mehrfach besucht der Ich-Erzähler Dorota. Sie liest ihm Gedichte des in den 1960er-Jahren aus Polen emigrierten und in Berlin gestorbenen Lyrikers Arnold Slucki vor. Ihre existenzphilosophisch aufgeladenen Monologe, die entfernt an die ausufernden Selbstgespräche des Fürsten Saurau in Thomas Bernhards "Verstörung" erinnern, sind ihrem Zuhörer nicht immer angenehm. Aber sie ziehen ihn offensichtlich an, weil er sie in Einklang mit der Fragilität seines eigenen Daseins bringen kann.
    Dass es mit der Architektin ein tragisches Ende nehmen wird, verrät bedauerlicherweise bereits der Klappentext. Doch ohnehin steckt in den um Tod, die Literatur und die Vergänglichkeit kreisenden Ausführungen Dorotas eine grundlegende Verzweiflung:
    "Es könne in einem ein Schwindelgefühl erzeugen, sagte sie, das einen um einen festen Punkt in der eigenen Person schwanken lasse und einem plötzlich klarmache – vielleicht jetzt, da der Herbst angebrochen sei, ganz besonders –, dass es in einem selbst eine Art Wand gebe, hinter die man niemals schauen könne, weil dort nur leerer Raum sei. Eine unüberwindliche Grenze, sagte sie. Hinter der sich ein Raum öffnet oder eben auch schließt, in dem nichts ist. Nicht etwa das Nichts, sondern wirklich nichts."
    Nach und nach verdichtet Matthias Nawrat die Hauptmotive von Migration und, als Gegenbewegung, Heimaterkundung und spielt sie an unterschiedlichen Charakteren durch.
    Die wohl stärkste Figur des Buchs
    Im Treppenflur des Hauses, in dem der Erzähler mit seiner Frau lebt, sammeln sich immer wieder von der Hausgemeinschaft misstrauisch beäugte Menschen, vermutlich aus Osteuropa. Der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz wiederum erschüttert den Erzähler selbst in seinem prekären Gefühl des Aufgehobenseins: An jeder Ecke glaubt er den zunächst flüchtigen Attentäter zu erkennen, und auch nachdem dieser in Italien erschossen wurde, bleibt ein Restbestand an Unbehagen zurück.
    Aus dem zu Beginn ein wenig planlos und verwirrend angelegten Geflecht von Wegen und Begegnungen spinnt Nawrat geschickt ein zugegeben recht loses Netz aus urbanen Erfahrungen der unterschiedlichsten Art. Im dritten Part verengt Nawrat dann die beinahe flaneurhaften, hingetupften Begegnungen.
    "Der traurige Gast" steuert im Schlussteil auf die wohl stärkste Figur des Buches zu: Weil er mit dem Schreiben nicht so recht vorankommt, beginnt der Icherzähler, an einer Tankstelle zu jobben. Dort lernt er Dariusz kennen, einen ehemaligen Arzt, dem die Approbation aufgrund seiner Alkoholprobleme entzogen wurde und der sich eben so durchs Leben schlägt, während die Last der Erinnerungen ihn geradezu erdrückt.
    Ein literarisches Glanzstück
    Dariusz ist in Polen in eine Ehe mit Marzena hineingeschlittert, hat einen Sohn, Artur, gezeugt und ist dann auf der Flucht vor dem Militärdienst nach Deutschland gekommen. Artur ist bereits vor Jahren als junger Mann in Südamerika ertrunken. Dariusz' Erinnerung an seine Ankunft in Deutschland Jahrzehnte zuvor leuchten exakt jenen Möglichkeitsraum zwischen Heimatverlust, Aufbruchseuphorie und Sehnsucht aus, in dem sich im Grunde alle Figuren des Romans bewegen:
    "Lange habe ich mich nicht getraut, so zu denken, aber das erste Jahr in Bayern war das schönste Jahr in meinem Leben. Als im Durchgangslager Friedland alles geklärt und ich in Landshut bei meiner Tante war, als ich – in einem Klassenzimmer mit Türken und Russen – einen Sprachkurs begann und mir mein erstes Auto kaufte, da fühlte ich plötzlich, dass alles möglich war. Ich war so glücklich, weil ich Marzena und Artur mit einem Mal vermisste."
    Allein die Dariusz-Episode ist ein literarisches Glanzstück, das problemlos als eigenständige Novelle stehen könnte. Doch auch auf voller Länge entfaltet dieser heterogene, auf den ersten Blick beinahe spröde Roman eine nachhaltige Wirkung.
    Der nur oberflächlich betrachtet ziellose Operationsmodus des Erzählers spiegelt die Existenzformen der Menschen, denen er begegnet. Subtil führt Nawrat Begriffe wie Lebensplanung oder Kontinuität ad absurdum; unaufdringlich, aber stets vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen und Verletzungen.
    "Der traurige Gast" ist ein leiser, aber dringlicher Roman; geschrieben in einer assoziationsreichen Sprache, die auch Raum lässt für einen tröstlichen Funken Resthoffnung.
    Matthias Nawrat: "Der traurige Gast", Rowohlt Verlag, Reinbek. 304 Seiten, 22 Euro