Das amerikanische Magazin Newsweek beleuchtet in seiner Ausgabe vom 27. August 1945 das erwachende Kulturleben im Deutschland der Stunde Null, insbesondere sein weltberühmtes Orchester:
"Leo Borchard, der 46-jährige Dirigent der Berliner Philharmoniker, ist vielen Kritikern zufolge der einzige Mann, um den herum das Orchester hoffen kann, sich wieder neu aufzubauen."
Leo wer? – Als die Dirigenten des Berliner Philharmonischen Orchesters fallen einem andere Namen ein. Vor 1945 der allesbeherrschende Furtwängler. Nach 1945 der allesbeherrschende Karajan. Aber Borchard, Leo?
Ein in einem amerikanischen Leitmedium als Philharmonikerchef in den Blick genommener 46-jähriger Dirigent, dessen Name hierzulande kaum bekannt ist – man möchte mehr wissen. Die Geschichte ist aber noch dramatischer, ja tragischer. Denn als der Artikel erscheint, ist der Mann, der hier als Hoffnungsträger eines Neuanfangs bezeichnet wird, nicht mehr am Leben. Erschossen, drei Tage zuvor in der Nacht vom 23. auf den 24. August, von einem amerikanischen Wachtposten am Übergang vom britischen zum amerikanischen Sektor an der Berliner Kaiserallee. Leo Borchard saß im Auto des britischen Offiziers und Kunstfreunds Thomas Richmond Creighton. Dieser hatte die Zeichen der Wachsoldaten an der Sektorengrenze, anzuhalten, missverstanden, sie schossen sofort, so war der Befehl, die Kugel traf Borchard in den Kopf. Keine Verschwörung, ein Unglücksfall, tragisch, und doch ein Kollateralereignis, wie es sie eben gab in den Wirren der Nachkriegszeit, zumal im Hotspot Berlin.
"Eine unvollendete Karriere"
Der ehemalige Musikdramaturg und Kulturjournalist Matthias Sträßner hat in jahrelanger Archivarbeit Quellen erschlossen, die Borchardts Schicksal neu beleuchten. Bereits 1999 hatte er eine erste Biografie zu dem bis dahin großen Unbekannten Leo Borchardt vorgelegt, im Untertitel "Eine unvollendete Karriere". Nun folgt mit "Der Dirigent, der nicht mitspielte" eine erheblich erweiterte Fassung, und das ist eine Tat. Es ist die Tat eines Historikers, der einem verwirrend faszinierenden Gegenstand nachforscht, Archivfundstücke birgt und zum Sprechen bringt, differenziert deutet, Zusammenhänge herstellt, dabei Leerstellen und was rätselhaft bleibt nicht verschweigt. Sträßners Gegenstand, das Leben dieses "unvollendeten" Leo Borchard, ist nun nicht allein wegen dieses schockierend abrupten Endes fesselnd, sie wird nicht weniger interessant, wenn es in der timeline dieser unvollendeten Karriere zurück geht.
"Schon deshalb kann bei dieser Arbeit nicht im Mittelpunkt stehen, ob mit Borchards künstlerischer Entwicklung auch seine berechtigte Anwartschaft auf die Leitung der Berliner Philharmoniker – ggf. in Konkurrenz zu Wilhelm Furtwängler – nachzuweisen ist, sondern eher, wie ein regimekritischer Künstler, der als deutschstämmiger Russe 1917 nach Berlin kommt, die Jahre von 1918 bis 1945 durchlebt. Wie spielen die "weiße Emigration", das russische Berlin, die Geschichte des Berliner Philharmonischen Orchesters, die Kulturpolitik der Nazis, die Geschichte des Widerstands, die Geschichte Neuer Musik und die Geschichte der Rundfunkorchester in Europa, wie spielen Presse- und Verlagsgeschichte bei dieser besonderen Person, bei dieser besonderen Familie und ihrem Umfeld zusammen?"
Erst die Geige, dann das Klavier
Ein deutschstämmiger Russe: Leo Borchard wurde 1899 in Moskau in eine märchenhaft reiche Familie geboren. Das Musikmachen beginnt für ihn mit der Geige, dann am Klavier, seit 1920, als er mit der Schwester nach Berlin gegangen war, Teil der legendären russischen Emigrantengesellschaft, verlegt er sich aufs Dirigieren. Er hat beste Lehrer: Eduard Erdmann fürs Klavier, Hermann Scherchen fürs Dirigieren – Protagonisten der Neuen Musik. Borchard fühlt sich auch in Berlin, wie Sträßner akzentuiert, weiter als Russe. Er wird ein Spezialist für die Neue Musik der Zeit, und für Tschaikowsky. Borchard, mit feiner Schlagtechnik und exzellentem Handwerk, geht zunächst Nebenwege zum Erfolg, als Korrepetitor, Assistent des großen Bruno Walter und als Chor-, Film- und Funkdirigent. Vor allem aber wird er eine Art stiller Star der populären Sonntagskonzertreihe der Berliner Philharmoniker.
Es läuft nicht schlecht für Borchard. Im April 1933 aber knickt die Aufwärtskurve. Nach einer Probe für ein Funkkonzert zum Hitler-Geburtstag wird er denunziert:
"Herr Kapellmeister Leo Borchard hat in Königsberg beim Abspielen des Deutschlandliedes deutlich erkennbar in unwilliger Weise den Taktstock niedergelegt."
Als regimekritischer Musiker zum Schweigen gebracht
Mehr brauchte es ja nicht. Borchard wurde "der Dirigent, der nicht mitspielte". Zu den Verdiensten von Sträßners differenziertem Zugriff auf die Quellen gehört nun, dass die Darstellung nicht dem jetzt naheliegenden Narrativ folgt, das hier ein regimekritischer Musiker zum Schweigen gebracht, nach dem Untergang des Regimes dann als herrlich unbelastet auf einen der größten Posten des Weltmusikbetriebs gesetzt wird, um dann von einem Angehörigen der Befreiungsarmee getötet zu werden. Die Sache liegt, erstens, wie meist, komplizierter. Und zweitens: Ist diese Geschichte schon erzählt. Borchards Freundin, Gefährtin, Managerin, die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich, hat sie als literarisches Tagebuch der Kriegsjahre unter dem Titel "Der Schattenmann" 1947 veröffentlicht. Sträßner muss nun seine ganz andere Sicht, die des Historikers, der wissen will, wie es war, abgleichen mit Friedrichs literarischer Erzählung, der es eben auch darum geht, eine Deutungshoheit über die Geschichte des Freundes zu behaupten. So "bohrt" sie sich, wie Sträßner schreibt, in die Biographie des Freundes hinein. Sein Werkzeug aber ist der feine Staubpinsel des Archäologen.
Was sichtbar wird, und was man sehr selten zu sehen bekommt, ist ein Blick in die Grauzonen einer Art Alltagsbewältigung unter den außergewöhnlichen Umständen der Nazizeit.
"Weder Karajan, noch Furtwängler, Celibidache oder auch Borchard können sich der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit entziehen. Aber nur Borchard scheint sich als Dirigent beruflich zurückzuziehen und ‚nicht mehr mitzuspielen’."
Nebenwege, Gastspiele im Ausland, spezielle Neue-Musik-Programme
Sträßner bringt es auf die Formel: Nicht die Nazis verweigern ihm die Arbeit, er verweigert sich den Nazis, spielt nicht mehr mit, geht aber auch nicht weg, sondern sucht Nebenwege: Gastspiele im Ausland, spezielle Neue-Musik-Programme. Er arbeitet als Übersetzer aus dem Russischen: Tschechow etwa, Dostojewski. Ob es am Ende die Bindung an die Philharmoniker war, sein Instrument, die den aristokratischen Weltbürger Borchard in Hitlerdeutschland bleiben ließ, kann man nur mutmaßen. Er engagiert sich, in der letzten Kriegsphase, in der Berliner Untergrundgruppe "Onkel Emil". Bei Nacht und Nebel malen sie "Nein" an Wände, man hilft Untergetauchten, arbeitet konspirativ. Umso bitterer sein Tod Wochen nach dem Ende der Naziherrschaft.
Leo Borchard dirigierte nicht nur das erste Philharmoniker-Konzert nach dem Krieg, kaum glaublich, nur zwei Wochen nach Kriegsende, Mendelssohns "Sommernachtstraum" als erste Musik einer neuen Zeit. Er war es auch, der das Orchester, mit dem Fahrrad durch die Trümmerstadt radelnd, wieder zusammenbrachte und gefährliche Fusionsideen mit der Staatskapelle verhinderte, indem er einfach anfing. Aus den vielen Mosaiksteinchen, die Matthias Sträßner zusammengetragen hat, entsteht kein pastoses Heldengemälde; doch umso plastischer: das Bild eines großen Mannes.
Matthias Sträßner: "Der Dirigent, der nicht mitspielte. Leo Borchard 1899-1945"
Lukas Verlag, Berlin. 529 Seiten. 24,90 Euro.
Lukas Verlag, Berlin. 529 Seiten. 24,90 Euro.