Womit muss ein Buch beginnen, das "Gegenwartsbewältigung" heißt und dieser Tage erscheint. Klar, mit Corona! Die vom Virus ausgelöste Krise erscheint Max Czollek als "Kontrastmittel" - ein Wort, das er sich in diesem Kontext bei der Publizistin Carolin Emcke ausleiht. Dieses Kontrastmittel habe sichtbar gemacht, dass die viel beschworene Solidarität während des Lockdowns nicht allen gegolten habe, sondern vielmehr einem klar definierten Wir, das Czollek mal als "deutsche Gesellschaft", mal als "Solidaritätsgemeinschaft" bezeichnet. Die Nation rückt gewissermaßen zusammen, schottet sich ab, ignoriert das Elend an den europäischen Außengrenzen und entzieht denjenigen das Mitgefühl, die als nicht dazugehörig empfunden werden: Migranten und Minderheiten. Die Solidarität sei somit eine "beschränkte Solidarität" gewesen, die in Deutschland "eine ganz eigene tödliche Tradition" habe, meint Czollek:
"In den letzten Jahren erlebten wir die rasante Rückkehr völkischen, rassistischen und antisemitischen Denkens, das in Teilen auf eine über tausendjährige deutsche Tradition zurückblickt. Angesichts dieser Geschichte möchte ich für eine Perspektive plädieren, die die Realität der postmigrantischen Gesellschaft anerkennt, gerade auch in ihrem Potenzial für historische und kulturelle Bezugspunkte in der Vergangenheit. Eine zentrale Frage der Gegenwartsbewältigung ist nämlich, wie wir unser politisches Denken so einrichten können, dass die AfD unmöglich wird."
Kollektives Erinnern als "Gedächtnistheater"
Mit seiner "Gegenwartsbewältigung" reagiert Max Czollek auf den Begriff der Vergangenheitsbewältigung. Bereits in seinem 2018 erschienenen Essay "Desintegriert Euch!" verwies er auf eine offizielle Gedenkkultur, die den Weg für ein neues nationales Selbstverständnis ebnete. Einen Begriff des Soziologen Michal Bodemann aufgreifend, bezeichnet er diese Form des kollektiven Erinnerns als "Gedächtnistheater". Dabei werde "den Juden", wie Czollek schreibt, eine entscheidende Rolle zugedacht. Der beste Schutz vor dem antisemitischen Ungeist, so der konservative Konsens, sei eine "deutsche Leitkultur" - erst kürzlich wieder zu hören aus dem Munde des konservativen Nachwuchses der CDU, Philipp Amthor, anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz:
"An der Aussage des CDU-Politikers Amthor […] lässt sich demnach zweierlei ablesen: das Selbstbild einer von ihrer Geschichte vermeintlich erfolgreich geläuterten deutschen Gesellschaft und die Vorstellung, dass diese Gesellschaft hierarchisch geordnet sein müsse, um in Gegenwart und Zukunft gut zu funktionieren."
Die Wurzeln des Strebens nach einer waschechten Nationalkultur datiert Max Czollek jedoch nicht im Nationalsozialismus, sondern erheblich früher. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts war Johann Gottfried Herder das "Unkraut" im Garten der Nation ein Dorn im Auge, Novalis träumte von einer "deutschen Kulturnation" und Hölderlin besang den "Tod fürs Vaterland".
Zwar könne letzterer nichts dafür, räumt Czollek ein, dass die Nazis den Text des letzteren instrumentalisierten, "ganz ohne Bezug", so der Autor, sei "Hölderlins Idealisierung des Sterbens für das Vaterland" jedoch auch nicht, weil er sonst "nicht so gut in den Tornister neben die Bahlsen-Kekse gepasst" hätte, wie Czollek schreibt. Nun sei es jedoch an der Zeit, das Vermächtnis jener Künstler zu stärken, die gegen völkisches Denken rebellierten. Denn:
"Die Vorstellung einer überlegenen deutschen Kultur hat […] auch in den Jahrhunderten des völkischen Nationalismus nie gestimmt. Immer waren da Juden, Frauen, Linke, die das Bild der angestrebten völkischen Reinheit störten. Jenseits der Phantasie deutscher Hoch- und Leitkultur existiert ein riesiges Archiv wiederständiger künstlerischer Perspektiven […] Zu jedem Zeitpunkt haben Menschen ihre Kunst als Widerstandsform gegen Herrschende verstanden."
Gesellschaft widerstandsfähig durch Vielfalt
Max Czollek geht es darum, diesen anderen Perspektiven Gehör zu verschaffen. "Radikale Vielfalt" lautet seine Antwort auf das AfD-kompatible Heimatgedöns der "deutschen Leitkultur". Angesichts der Anschläge von Halle und Hanau und des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, bei denen rechtsextreme Täterschaften außer Frage stehen, plädiert er nicht mehr für sanfte Ansprachen, sondern für die "große künstlerische Brechstange": eine "jüdisch-muslimische Leitkultur":
"Die jüdisch-muslimische Leitkultur ist die Konsequenz aus der Einsicht, dass die plurale Gesellschaft nicht nur auf Vielfalt basiert, sondern dass sie aus dieser Vielfalt auch ihre Widerstandsfähigkeit schöpft. Das öffnet den Blick auf ein prall gefülltes historisches Archiv, das vom Widerstand und der Selbstermächtigung diskriminierter gesellschaftlicher Gruppen berichtet – von der wehrhaften Poesie von Juden und Jüdinnen bis zu afrodeutschen Perspektiven, von feministischen Interventionen bis zu den Kunstwerken von Gastarbeiter*innen und ihren Kindeskindern."
"Gegenwartsbewältigung" ist eine Streitschrift, eine Positionierung. Nicht das Abwägen und Austarieren sind Czolleks Sache, sondern das Zuspitzen und Provozieren. Seine Thesen und Argumente kümmern sich nicht immer um wissenschaftliche Belegbarkeit, wie er freimütig zugibt. Ihm geht es um Parteinahme für diejenigen, die von der "beschränkten Solidarität" ausgeschlossen sind. Dabei gelingt es ihm immer wieder, interessante Zusammenhänge herauszuarbeiten - zum Beispiel zwischen dem oktroyierten Antifaschismus in der DDR und der starken Präsenz der AfD in den neuen Bundesländern. Max Czolleks "Gegenwartsbewältigung ist also Polemik in bestem Sinne - scharfsinnig, aufklärerisch und schlagkräftig.
Max Czollek: "Gegenwartsbewältigung",
Hanser Verlag, 208 Seiten, 20 Euro.
Hanser Verlag, 208 Seiten, 20 Euro.