"Auf dem Wege weiter, den uns die Partei gewiesen! Vorwärts, junge Streiter, vorwärts, Pionier!"
Eifrig rücken die Spieler gegenseitig ihre blauen Halstücher zurecht, ziehen die weißen Hemden glatt, marschieren wie die jungen Pioniere. Ja, so sah das wohl aus, damals, in der DDR, als die Jugend für die kommunistische Idee strammstehen musste.
Die meisten der acht Menschen, die an diesem Abend am Maxim Gorki Theater auftreten, sind natürlich längst aus diesem Alter raus. Fünf Frauen und ein Mann erzählen über ihre Vergangenheit im sozialistischen Staat; zwei Mädchen, 17 und neun Jahre alt, ergänzen die Gruppe. Bis auf die Schauspielerin Ruth Reinecke sind sie alle Laien, wie immer in den dokumentarischen Inszenierungen der Regisseurin Lola Arias.
"Ich bin eine 73jährige DDR-Pflanze. Exotisch, weil jüdisch und exotisch, weil kritisch. Trotzdem habe ich jahrelang als Simultan-Dolmetscherin gearbeitet, diente also als Sprachrohr."
"Ich bin eine 52jährige Ex-Sängerin der Punkband 'Namenlos' aus der Ex-DDR, die wegen ihrer systemkritischen Lieder in den, Gott sei Dank, Ex-Knast geschickt wurde."
Der Traum vom Sozialismus nach der Nazi-Barbarei
Als zentrales Narrativ zieht sich die Biografie der 84jährigen Jüdin Salomea Genin durch den Abend: die schlimmen Jahre im Nazi-Berlin, Flucht nach Australien, erste Kontakte mit Kommunisten, Rückkehr nach Berlin, 18 Jahre als IM bei der Stasi – schließlich die beschämende Erkenntnis, einen Polizeistaat mitaufgebaut zu haben, und die Depression, als nach der Wende kapitalistische Werbeplakate ihre Umgebung pflastern.
Arias und Bühnenbildner Jo Schramm setzen auf Nähe, Gemeinschaft, Emotion: Gespielt wird auf einem breiten Holzsteg, dessen Seiten die Zuschauerbänke flankieren. Die Spieler sitzen auch mal im Stuhlkreis, tauschen sich freundschaftlich aus, die kleine Matilda darf forsche Fragen stellen. Das alles ist meistens informativ, oft eindrücklich, tut aber keinem weh: Schließlich – und das ist das Manko dieser autobiografischen Projekte – soll kein "echter" Mensch vor Publikum schlecht aussehen. So bleiben zwangsläufig viele Schmerzpunkte unangetastet.
Ein bisschen Frieden
Mit Verve schmeißen sich dafür alle in die Gesangseinlagen – und es berührt durchaus, wenn die in die Jahre gekommene Ex-Punksängerin ihren großen Hit von damals ins Mikro schreit oder wenn die Vietnamesin, die so stolz war, in Ostdeutschland ihre Heimat repräsentieren zu dürfen, ihr einstiges Hoffnungslied schmettert:
"Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne, für diese Erde, auf der wir wohnen".
Ruth Reinecke, seit 1979 Schauspielerin am Gorki, versucht mit einer Szene aus Volker Brauns "Übergangsgesellschaft" den Zuschauern fast 30 Jahre nach der Uraufführung an eben diesem Haus das Gefühl für jene Zeit zu vermitteln – es ist eine leidenschaftliche Geschichtsstunde. Allein: Es bleibt Vergangenheit. Sobald der Abend chronologisch in der Gegenwart ankommt, zerfasert er: Was hat das erfreuliche Engagement der 17jährigen Helena für die Flüchtlinge an der Kreuzberger Gerhart-Hauptmann-Schule noch mit der Zukunftsfähigkeit des Kommunismus zu tun? Am Schluss schwelgen alle in der vagen Sehnsucht nach einem friedlichen Miteinander. Der junge Tucké sagt, als wäre das noch eine neue Erkenntnis:
"Man darf sich den Kommunismus auch nicht mies machen lassen. Die DDR ist kein Beweis gegen den Kommunismus."
Zu banal ist das als Bilanz eines Abends, der doch den ganzen Atlas des Kommunismus kartografieren wollte.