Mirjam Kid: Es ist die Geschichte von Freiheit, von gewaltlosem Widerstand und von der Revolte gegen ein System der Jahrzehnte langen Unterdrückung: 30 Jahre Mauerfall werden diese Woche in Berlin gefeiert. Aber wie viel wissen wir eigentlich wirklich - 30 Jahre später – über das Leben in der DDR damals? Und wieviel über das Leben, die Herausforderungen und den Alltag in den ostdeutschen Bundesländern heute? Die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen werfen da Fragen auf. Aber auch die Darstellung der DDR-Geschichte in den Medien wird schon lange als einseitig kritisiert.
Darüber konnte ich vor der Sendung mit Josa Mania-Schlegel sprechen. Er ist in Weimar aufgewachsen, ist Journalist bei der "Zeit" in Leipzig und Co-Autor des Buchs "Ostdeutschland verstehen". Und ich habe ihn zunächst gefragt: Ob er zufrieden ist, mit den historischen Rückblicken, die wir jetzt wieder über all zu sehen bekommen?
Josa Mania-Schlegel: Ich muss gestehen, ich habe noch gar nicht so viele Rückblicke sehen können. Das liegt zum einen daran, dass ich selber hier im Leipziger "Zeit"-Büro damit befasst bin, mir zu überlegen, was wir zu diesen Jubiläen tun. Wir richten eher den Blick nach vorne und arbeiten gerade an einer langen Liste von jungen Ostdeutschen, die uns Hoffnungen machen. Also der Blick nach vorne, auch das kann ein DDR-Jubiläum sein. Es gibt aber eigentlich noch einen zweiten wichtigeren Grund, warum ich so wenig gucke…
Kid: Kein Interesse?
Schlegel: Ganz einfach, ja, tatsächlich. So traurig das klingt, dass ich das noch nie getan habe und auch noch nie das Gefühl hatte, dass in dieser DDR-Aufarbeitung die Geschichte meiner Eltern oder die Geschichte meiner Familie erzählt wird, sondern irgendwie was anderes.
Zwischen Einheitskitsch und Stasi-Thriller
Kid: Sie fühlen sich da also nicht angesprochen und würden sagen, das ist ein eher einseitiger Blick, bei dem Einiges ausgelassen wird?
Schlegel: Total, und ich glaube, das geht nicht nur mir so, das geht also vor allem auch meinen Eltern so, der ganzen letzten Generation der DDR geht das, glaube ich, so, was ich so aus Gesprächen raushöre, dass man sich eher davon abwendet. Was mich jetzt auch überrascht, auch an mir selber, dass das auch uns so geht, uns junge Ostdeutschen der Nachwendegeneration, die sich davon auch irgendwie nicht angesprochen fühlt.
Für mich geht diese mediale Berichterstattung immer in zwei Richtungen. Das ist einmal so Einheitskitsch, also die Wiedervereinigung als ein rundum gelungenes Ereignis, das es zu feiern gilt, und dann so diese ganz böse Unrechtsstaatsdarstellung von der DDR als Ausgeburt der Hölle und deren Abschaffung dann letztlich auch ein rundum positives Ereignis war.
Nur "Goodbye Lenin" und dann "Das Leben der Anderen"
Kid: Was fehlt uns da, was sind die blinden Flecken in der medialen Repräsentation der DDR?
Schlegel: Vielleicht muss man sich erst mal angucken, was da ist. Ich war zum Beispiel gerade eben essen mit meinem Freund Tobias, der studiert Medizin in Köln, und für den und seine westdeutschen Freunde ist Osten eigentlich mit zwei ganz großen filmischen Ereignissen verknüpft, und das ist einmal "Goodbye Lenin" und dann "Das Leben der Anderen".
Kid: Also so Ostalgie-Kitsch und Stasi.
Schlegel: Ja, genau. Das sind irgendwie die beiden Dimensionen, um die DDR-Aufarbeitung kreist. Na ja, ganz interessant auch, dass beide Filme von westdeutschen Regisseuren, ich glaube, beide sogar aus Nordrhein-Westfalen, gedreht wurden. Also vielleicht erklärt das auch Einiges.
Kid: Das heißt, es ist ja auch immer entscheidend, wer Geschichte, Geschichten erzählt, und das sind meistens die Wessis.
Schlegel: Ja, so ist mein Eindruck. Das ist genau im Kino so, habe ich das Gefühl, es ist aber auch in den Medien so, auch wenn es besser wird. Allerdings wurde ja viel drüber geredet, dass es nicht eine große überregionale Zeitung aus dem Osten gibt, sondern immer nur ganz viele aus dem Westen, und, na ja, da ist es ja dann zwangsläufig so, dass die Deutungshoheit dann auch im Westen liegt und nicht aus dem Osten die Geschichte über den Osten erzählt wird, außer man bemüht sich und macht ein Büro im Osten auf oder schickt Korrespondenten hin, was ja jetzt immer öfter passiert.
"Ich glaube, es gibt im Osten einen ganz differenzierten Blick"
Kid: Das war jetzt Werbung auch für "Die Zeit" vielleicht. Woran liegt das denn, warum gibt es da diese strukturelle Leerstelle, warum wurden Menschen aus dem Osten oder ehemaligen Osten so wenig beteiligt?
Schlegel: Ich glaube, dass man sich zum Teil fürchtet vor dem, was dann rauskommen könnte. Ich glaube, es gibt im Osten einen ganz differenzierten Blick zum einen auf die DDR, dass man also jetzt auch anfängt darüber zu reden, was alles vielleicht nicht hätte abgeschafft werden sollen, ob das alles überhaupt so gut war mit der Wiedervereinigung, also eine ganz gefährliche Debatte, wo ganz viel infrage gestellt wird, auf das man eigentlich total stolz ist. Also die deutsche Einheit hat ja nicht umsonst einen Feiertag. Das will man eigentlich nicht infrage gestellt wissen.
Na ja, dann ist es einfach die Erzählung, die in unserem Land so vorangetrieben wurde von letztlich eigentlich der CDU als der größten Partei und auch der Einheits-Partei, die dann die Geschichte so geschrieben hat, wie sie nun vor uns liegt.
"Eigentlich wurde alles ausradiert"
Kid: Hat diese fehlende Beteiligung vielleicht auch etwas mit Skepsis zu tun, also Skepsis den Menschen gegenüber, die in einem totalitären System aufgewachsen sind, und hält sich diese Skepsis auch heute noch vielleicht?
Schlegel: Natürlich. Also ich glaube, dass dieser 68er-Moment, den sich manche herbeisehnen für den Osten, also dass man irgendwie jetzt mal mit seinen Vorgängern, mit den ganzen Unrechtsstaatsbeteiligten abrechnet, das ist total fehlgeleitet. Ich finde, diese Aufarbeitung der DDR hat sehr gut stattgefunden, vielleicht ein bisschen zu sehr, also ganz wenig nur wurde übernommen, eigentlich wurde alles ausradiert. Was ich interessant finde, ist, dass diese Nachwendegeneration, also die Kinder der DDR, also ich und meine Freunde hier im Osten, dass wir diese Skepsis aber auch noch abbekommen.
Also ich rede da von Dingen wie einen ostdeutschen Dialekt sprechen. Das ist also was, was man nicht unbedingt mit Kompetenz verbindet. Den trainiert man sich eher ab, wenn man es zu was bringen will im wiedervereinigten Deutschland, aber natürlich auch eine Frage von Wohnort. Also im Osten zu bleiben, ist heute immer noch irgendwie ein Bekenntnis. Hier gibt es nicht wirklich die tollen Jobs, nicht wirklich das große Geld. Also insofern wird man da auch zum Wessi gemacht, auf jeden Fall der Ossi wird einem ausgetrieben in dieser Hinsicht.
"Ich würde gerne mal einen Treuhand-Thriller sehen"
Kid: Sie haben eben gesagt, dass Sie die Geschichten Ihrer Eltern und Ihres Umfeldes nicht in den historischen Rückblicken wiederfinden. Welche Geschichten sind das, die da fehlen?
Schlegel: Also eine Geschichte, die mich in den letzten Jahren eigentlich total interessiert hat, ist die Geschichte der Treuhand. Das ist also diese Behörde, die nach dem Niedergang der DDR damit beauftragt wurde, die Betriebe, die volkseigenen, und letztlich staatseigenen Betriebe zu verwalten. Die haben ja wirklich Kahlschlag gemacht, also die haben ja fast alles verkauft oder dichtgemacht, tausende Betriebe, Millionen wurden arbeitslos.
Ich würde also gerne mal einen Treuhand-Thriller sehen anstatt den nächsten Stasi-Thriller, weil ich glaube, dass in diesem Treuhand-Trauma, was viele Ostdeutsche damals erlebt haben und heute noch mit sich tragen, ich glaube, daraus lässt sich auch ein Teil der Wut und des ganzen Frusts erklären, den wir jetzt wieder bei den Thüringen-Wahlen gesehen haben, der da wieder zutage getreten ist. Der nächste Schritt wäre sozusagen popkulturelle Inangriffnahme der Treuhand.
Scheuklappen, Ignoranz und fehlende Alltagsgeschichten
Kid: Es ist interessant, dass Sie jetzt auf Wirtschaftspolitik, die natürlich Gesellschaftspolitik beeinflusst, schauen, denn in unserer Redaktion eben gab es einige Debatten darüber, ob wir vielleicht auch deswegen oder viele Wessis so wenig deswegen über ostdeutsche Bundesländer und das Leben dort wissen, weil zu wenig auf Alltagsgeschichte geschaut wird, jetzt, aber auch vor allen Dingen damals und man einfach den Blick zu sehr auf Stasi und Unterdrückungsszenarien richtet. Ist denn Alltagsgeschichte etwas, was zu wenig aufgearbeitet ist Ihrer Meinung nach?
Schlegel: Ja, also allein die Erkenntnis, dass man durchaus ein schönes und gutes Leben führen konnte in der DDR. Ich weiß das aus erster Hand von meinen Eltern, dass das so ging und auch von meinen Großeltern. Das wollen einfach nach wie vor Viele nicht wahrhaben, was wahrscheinlich nur zu einem gewissen Teil an, sage ich mal, Scheuklappen oder Ignoranz liegt und zu einem anderen großen Teil daran, was Sie sagen, also dass Alltagsleben wenig dargestellt wird, wenig vermittelt wird, also dass diese eigentlich unvorstellbare Sache, dass man in einem Staat, wo man sozusagen eingesperrt war, dort trotzdem gut leben konnte und auch Kinder heranziehen konnte, die es zu etwas bringen. Also das ist etwas, was viele, glaube ich, nicht glauben können.
Ich finde das auch sehr verzeihlich. Man hat nun mal nicht immer die DDR-Eltern am Küchentisch sitzen, die einem das erzählén. Die habe ich, aber die würde ich so manchem Medizinstudenten aus Köln auch mal an den Küchentisch wünschen.
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