Zunächst ein paar Worte zum Wesen der Theorie: Theorien sind wie Medikamente – sie bergen Risiken und haben Nebenwirkungen. Falsch dosiert, führen Theorien oft zu geistiger Kurzsichtigkeit. Die Opfer der Überdosierung folgen dann jener Maxime, die nicht von Hegel stammt, ihm aber gern zugeschrieben wird: „Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.“
Wenn die Theorie nicht den Tatsachen entspricht
Hat auch die Leitung der Documenta nach dieser Maxime gehandelt, als sie im Vorfeld mit Begriffen wie 'Globaler Süden', 'Postkolonialismus', 'Kollektivität' und 'Inklusion' nur so um sich warf? Die publizistischen Reaktionen auf den Antisemitismus-Skandal legen tatsächlich nahe, dass gerade der theoretische Überbau zu dem Ergebnis geführt hat, das die israelische Botschaft so formulierte: „Die documenta fördert Propaganda im Goebbels-Stil.“ Bam! Und darum wird nun der Spieß publizistisch umgedreht, nach dem Motto: Wenn die Theorie nicht mit den Tatsachen übereinstimmt – umso schlimmer für die Theorie. „Der 'Globale Süden' ist eine Halluzination westlicher Romantiker“, schmetterte die Tageszeitung Die Welt.
Ideologische Chiffre statt Argumente
Falls Sie in der linksliberalen Kuschelecke zu Hause sind, mögen Sie denken: "Was soll man von der Welt aus dem Hause Springer denn anderes erwarten als Hass auf progressive Positionen?" Tja! Auch laut Süddeutscher Zeitung liegt ein Grundproblem der Documenta in der „sonderbaren Fetischisierung des globalen Südens“. Die SZ spottete über die „Romantisierung der Himmelsrichtung“. Und im Berliner Tagesspiegel beantwortete Caroline Fetcher die Frage „Ist der globale Süden nur eine ideologische Chiffre?“ vorsichtig-wortreich, aber doch klar mit Ja. Fetcher befand, dass der sorglose Umgang des Kollektivs Taring Padi mit den antisemitischen Figuren in dem Wimmelbild „People's Justice“ ausdrücken würde: „Für uns als progressive Kräfte im Globalen Süden ist das Feindbild Juden und Israel eine Selbstverständlichkeit.“
Mit falscher Wortwahl zum Waterloo der postkolonialen Bewegung
So aggressiv, wie mit dem theoretischen Überbau der Documenta eine ganze Zeitströmung abgeurteilt wird, liegt der Schluss nahe: Da hatte sich einiges angestaut! In der TAZ, die besagte Theorien oft als Erleuchtung gepriesen hat, befand Andreas Fanizadeh, Ressortleiter Kultur: „Vor lauter Gerede über Postkolonialismus und einen angeblich einheitlichen 'Globalen Süden' ist der Blick für Differenzen und Positionen verlorengegangen. [...] Ein Waterloo für die postkoloniale Bewegung.“ Hart am Rande des Zynismus äußerte sich Claudius Seidl in der FAZ: „So schnell wird der Postkolonialismus den Juden die Singularität des Holocaust nicht verzeihen.“
Über Postkolonialismus und Intellektualkultur
Gegenstimmen hört man am ehesten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Ein Meinungsbeitrag der Literaturwissenschaftlerin Andrea Geier im Deutschlandfunk Kultur hieß: „Nicht der Postkolonialismus ist schuld.“ "Ist er doch!", singt unterdessen der publizistische Mehrheits-Chor. Peter Sloterdijk unterstellt der 15. Documenta die „Mobilisierung einer postkolonialen Intellektualkultur“. Intellektuelle von der Peripherie stünden bereit, „die Macht im Zentrum zu übernehmen.“
Das Gegenteil von gut ist gut gemeint
Dafür spricht so einiges. Doch wie es scheint, ist die Macht erwacht. Die alte Macht im Norden, in den Zentren der ehemaligen Kolonisatoren, in der Mitte Europas. Und diese Macht holt zum Gegenschlag aus. Offenbar bewirkt die theorie-verliebte Documenta genau das Gegenteil von dem, was sie wollte und sollte.