Hunderte tote Zivilistinnen und Zivilisten – was sich schrecklich liest, wird noch verstörender durch die Bilder von dem, was die russische Armee laut Journalisten und Augenzeugen im Kiewer Vorort Butscha angerichtet hat. Viele Staaten sprechen inzwischen von Kriegsverbrechen, die russische Regierung bestreitet jede Verantwortung. „Diese Bilder werden den Krieg in eine neue Dimension katapultieren“, kommentiert die „Süddeutsche Zeitung“.
Was ist in Butscha passiert? Welche Reaktionen gibt es darauf? Eine Zusammenfassung zum Thema findet sich hier.
Die schnellebige Medienwelt suggeriert oft, wir würden alles Wichtige in Echtzeit erfahren. Aber dass in einem ukrainischen Ort Menschen bei einem Massaker ums Leben kamen, erfährt die Weltöffentlichkeit womöglich erst Tage nach dem Morden, als die russische Armee sich zurückgezogen hat - Human Rights Watch dokumentiert in einem Bericht einen Mord in Butcha schon am 4. März. Inzwischen hat eine Reihe internationaler Journalistinnen und Journalisten in Butscha recherchiert und fotografiert.
Organisierte Fahrten für die Presse
Zivilpersonen kämen nicht nach Butscha, er und sein Team seien aber mit Kontaktpersonen der ukrainischen Armee und der Stadt Kiew in den Vorort gefahren, sagte Paul Ronzheimer, der für die „Bild“ aus Kiew berichtet, am Montag
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. Er sei mit drei weiteren Kollegen sechs Stunden in den Straßen unterwegs gewesen. Es gebe auch organisierte Fahrten für die Presse, unzählige internationale Kolleginnen und Kollegen seien vor Ort gewesen.
Am prägendsten seien für ihn die Leichen gewesen, die auf der Straße verteilt gelegen hätten, sagte Ronzheimer. Er habe mehr als ein Dutzend Tote ohne Uniform gesehen. Eine Frau habe ihm berichtet, dass ihr Ehemann vor ihren Augen von russischen Soldaten hingerichtet worden sei.
Ronzheimer: "Russische Armee will Zeichen setzen"
Gefragt, warum die Toten auf offener Straße zurückgelassen worden seien, sagte Ronzheimer: „Die russische Armee will ganz bewusst Zeichen setzen. Sie haben gar kein Interesse daran, dass man denken könnte, sie würden Zivilisten verschonen.“ Es sei schon sehr lange Kriegstaktik Russlands, für Panik und Angst zu sorgen.
Mehr zum Krieg in der Ukraine
„Krieg ist – mindestens seit es moderne Medien gibt – immer auch ein Krieg der Bilder“, sagte der Sozialpsychologe Harald Welzer am Wochenende
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. Er beobachte seit der russischen Invasion nicht nur eine „Remilitarisierung“ der Sprache, sondern auch eine der Bilder, weil ohne Unterlass Fotos aus der Kriegsregion gezeigt würden.
ZDF zeigte Bilder von Leichen
Mit den Fotos aus Butscha gingen die deutschen Medienredaktionen unterschiedlich um. Das „heute journal“ des ZDF zeigte am Sonntag nach einer kurzen Warnung Bilder von Toten am Straßenrand. „Wir sind der Meinung, dass man das Grauen des Krieges nicht wegpixeln kann“, sagte Redaktionsleiter Wulf Schmiese
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. Wenn Leichen in ziviler Kleidung auf der Straße lägen, müsse man die in einer Nachrichtensendung zeigen. Alle Bilder und Videos seien sorgfältig auf Echtheit geprüft worden.
Es gebe aber Vorgaben: „Wir wägen bei jedem Bild ab, wie weit wir gehen können“, sagte der Journalist. So würden keine Gesichter gezeigt, um den Toten nicht die Würde zu nehmen. Außerdem gebe es Unterschiede zwischen den Nachrichten um 19 Uhr und dem „heute journal“ mit der späteren Sendezeit.
Die "Süddeutsche Zeitung" verzichtete - wie auch andere Zeitungen - darauf, Fotos des Massakers in der aktuellen Printausgabe zu drucken. Andere Blätter waren weniger zurückhaltend. Die „Bild“ zeigte auf ihrer Titelseite die übergroße Hand eine Frauenleiche, auf den Folgeseiten waren weitere Tote mit verpixelten Gesichtern zu sehen. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zeigte auf der Titelseite eine Straße mit mehreren, nicht erkennbaren Toten.
Presserat fordert Abwägung
Der Deutsche Presserat appellierte am Montag an Redaktionen, bei Kriegsbildern "sorgsam zwischen dem Informationsinteresse der Leserschaft und den Interessen von Opfern und deren Angehörigen abzuwägen". Fotos von getöteten Zivilisten habe das Gremium in der Vergangenheit in vielen Fällen als zulässig bewertet. Opfer dürften durch die mediale Darstellunge aber nicht zusätzlich herabgewürdigt werden. Zu dem Massaker von Butscha lägen noch keine Beschwerden über die Berichterstattung vor.
Beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ gebe es die grundsätzliche Richtlinie, keine Leichen zu zeigen, sagte Kendra Stenzel, die das Newsdesk des „Kölner Stadt-Anzeigers“ leitet, im Dlf-Medienpodcast
„Nach Redaktionsschluss“
. In dem Dlf-Podcast ging es schon wenige Tage, bevor die Fotos aus Butscha öffentlich wurden, um die Kriegsberichterstattung in Bildern. Stenzel betonte, auch Leichentücher oder einzelne Gliedmaßen würden nicht gezeigt.
Für Kinder und Jugendliche schwer zu verkraften
„Wir weichen diese Regel gegebenenfalls auf, wenn ein Foto die reine Dimension des Leids überschreitet“, sagte Stenzel. Denn reines Leid abzubilden, sei kein ausschlagender Grund, ein Foto zu zeigen, weil Leid immer entstehe, wenn Menschen sterben. Stattdessen müsse eine größere Aussage oder Thematik dahinterstehen. Ihr Blatt sei aber eine Zeitung, die am Frühstückstisch neben den Brötchen liege und die auch Kinder anschauen würden. Im Internet seien die Spielregeln andere.
Für einige Nutzerinnen und Nutzer seien solche Bilder schwer zu verkraften, unter anderem für Kinder und Jugendliche, sagte auch die Medienprofessorin Petra Grimm, Leiterin des Instituts für Digitale Ethik in Stuttgart, in derselben Podcastfolge. Manche Erwachsene würden versuchen, mit den Bildern gar nicht in Kontakt zu kommen. Bei anderen entwickele sich eine gewisse Sogwirkung des Sensationellen und Spektakulären.
Mehr zur Berichterstattung über den Ukraine-Krieg
Die journalistische Ethik stelle die Frage, ob an einer Darstellung ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit bestehe. Es gehe auch um die Würde der Verstorbenen. „Man sollte sich einfach mal fragen: Will man selbst so dargestellt werden? Will man in so einer Art und Weise medial gezeigt werden? Und was macht das mit den Angehörigen?“, forderte die Medienwissenschaftlerin.
Pulitzer-Preisträgerin verteidigt Kriegsfoto
Im März hatte die „New York Times“ die Diskussion um Kriegsbilder mit einem drastischen Titelbild befeuert. Die US-Zeitung hatte großformatig eine getötete Familie gezeigt, ohne die Gesichter unkenntlich zu machen. Fotografin ist die Pulitzer-Preisträgerin Lynsey Addario, die im ZDF sagte, sie habe das Foto als Zeugnis eines Kriegsverbrechens gemacht.
Der Journalist Andrej Reisin plädierte in einem Kommentar für das Portal Übermedien dafür, solche Bilder unverfälscht zu zeigen: „Die Würde dieser Opfer wird nicht wiederhergestellt, wenn wir beschämt ihre Gesichter verpixeln. Wir machen das Geschehene damit nur etwas erträglicher – für uns.“