Einer von ihnen ist der Medienwissenschaftler Dr. Daniel Stein:
"Serien funktionieren dadurch, dass sie den Wunsch nach mehr, den Wunsch nach der Fortsetzung in sich selbst schon eingebaut haben, dass ich wissen will, wie die Geschichte weitergeht, was der Hauptfigur in der nächsten Folge widerfährt. Es gibt schon seit über hundert Jahren die Konvention des Cliffhangers, dass genau dann, wenn es besonders spannend wird, die Folge zu Ende ist. Und dann muss ich eben wieder einschalten, bzw. muss ich mir die nächste Episode kaufen, wenn es sich um Hefte oder Romane handelt, um zu wissen, wie es weitergeht."
Nach einem denkbar einfachen Prinzip scheinen die Serienmacher im Hörfunk-, TV-, Print- und Onlinebereich zu arbeiten. Die Geschichtenschreiber erfinden interessante Charaktere, deren Heldenreisen wir mit Sympathie für die Guten, Antipathie gegenüber den Bösen und Empathie gegenüber den Opfern verfolgen. Eine ordentliche Portion Spannung gehört natürlich auch noch dazu und dann, wenn's am schönsten ist, Schluss, aus, Fortsetzung folgt ... Serien wie "Rote Rosen", "Sturm der Liebe", "Batman", "Superman", "Mickey Mouse" und Co. sind nach diesem Strickmuster aufgebaut.
Serien strukturieren den Alltag
Entscheidend für den Erfolg einer Serie ist es, dass sie Einzug in den Alltag der jeweiligen Rezipienten hält, wie Daniel Stein erklärt, der das Phänomen Serien mit anderen Wissenschaftlern seit 2010 in einer groß angelegten Studie erforscht:
"Dass sie unseren Alltag strukturieren, dass ich eben weiß, dass jeden Sonntag der 'Tatort' läuft, dass ich weiß, einmal im Monat und zwar immer an einem Mittwoch, kommt das neue 'Batman'-Heft raus, dass ich weiß, wenn ich 'Perry Rhodan'-Leser bin, dass das nächste Heft kommen wird, und wann es kommen wird und wann ich es lese. Leute entwickeln ihre Rituale. Und diese Ritualisierung des Serienkonsums drängt immer stärker in unseren Alltag hinein."
Nicht nur diesem Phänomen will die Forschergruppe in dem Projekt, das vor vier Jahren gestartet wurde und das voraussichtlich noch bis 2016 laufen wird, auf die Spur kommen. Oberstes Gebot für die Wissenschaftler war und ist es, nicht nur in Einzelfallstudien bestimmte Serien zu beleuchten und zu analysieren, sondern einen Gesamtüberblick zu schaffen. Sie wollen unter anderem herauszufinden, welchen gesellschaftlichen Stellenwert Serien in der westlichen Welt haben und hatten. Auch ein Blick in die Geschichte des seriellen Erzählens ist den Wissenschaftlern wichtig. Und dabei haben sie Erstaunliches entdeckt, so Stein:
"Dass man eigentlich bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückgehen kann. Sobald wir Massenproduktion möglich haben, also Massenprint und auflagenstarke Zeitungen, die nicht teuer sind und die sich jeder kaufen kann. Da haben wir zum Beispiel den Feuilleton-Roman von Eugène Sue."
Serien im 19. Jahrhundert
1842 schuf dieser französische Schriftsteller den Prototyp des Fortsetzungsromans. In seinen "Mystères de Paris" - "Die Geheimnisse von Paris", spielte ein heldenhafter Graf die Hauptrolle. Die spannenden Abenteuer, die er zu bestehen hatte, wurden zu einem gesellschaftlichen und literarischen Ereignis für die Pariser Bürger.
Nach jeder neuen Ausgabe der Pariser Tageszeitung "Journal des Débats" tauschten sich die begeisterten Leser über den Fortgang der Geschichten aus. Eugène Sue nutzte schon damals die Möglichkeit der Interaktion. Er baute hin und wieder Ideen und Anregungen, die ihm seine Fangemeinde in Leserbriefen zukommen ließ, in die Handlungsstränge seiner Geschichten ein. Ganz klar, dass dieses Erfolgskonzept bald auch von anderen Tageszeitungen in anderen Ländern aufgegriffen wurde, denn diese Fortsetzungsgeschichten machten die Leser geradezu süchtig. Und diese Sucht nach Serie hat auch Daniel Stein untersucht und folgendes herausgefunden:
"Dass auch, wenn Leute über Serien sprechen, auch über ihren Serienkonsum oder über ihre Serienrezeption, sehr oft auch diese Begriffe benutzen. Dass Fans Leserbriefe schreiben, in denen sie sagen, ich bin abhängig von dieser Serie, das ist mein ein und alles, ich kann es nicht erwarten, bis die nächste Folge erscheint. Es gibt, wenn sie sich das sogenannte Qualitätsfernsehen in den USA anschauen, mittlerweile Praktiken, die nennt man Binge Watching, dass sich Leute das Ganze auf DVD kaufen, wenn die Serie fertig ist und dann einfach ganze Staffeln an einem Wochenende gucken, und die ursprüngliche Taktung der Serie, zum Beispiel einmal die Woche, dann dadurch aufheben, dass sie sie im Nachhinein ja fast suchtartig und exzessiv gucken und das auch zelebrieren."
Serien aus vielen Richtungenbetrachtet
Die Forschergruppe um Dr. Daniel Stein ist interdisziplinär ausgerichtet. Wissenschaftler aus den Fächern Germanistik, Kulturanthropologie, Medienwissenschaft oder Europäische Ethnologie arbeiten darin gemeinsam. An den Universitäten von Berlin, Göttingen, Hannover, Karlsruhe und Tübingen wurden Teilprojektstandorte eingerichtet, die zu einzelnen Themenfeldern forschen und deren Erkenntnisse in das Gesamtprojekt einfließen.
Daniel Stein selbst ist Amerikanist und Fachmann im Bereich der US-Medienwelt. In den Vereinigten Staaten hat man nach dem europäischen Vorbild ebenfalls sehr früh auf die Faszination von Serienerzählung gesetzt. Besonders die Zeit kurz vor dem Bürgerkrieg, also vor 1861, gilt als Hauptentstehungsphase kommerzieller Populärkultur. Damals waren es vor allem die so genannten "City Mystery"-Serien, die nach dem Vorbild des Franzosen Eugène Sue, in der Stadt der angepeilten Leserschaft spielten und so eine starke Bindung zwischen Rezipient und Protagonist aufbauen sollten.
Seit 1970 flimmert die ARD-Krimiserie "Tatort" über die Bildschirme. Sie hat sich im deutschsprachigen Raum als die beliebteste und die mit der längsten Lebensdauer erwiesen. Auch zu den darin agierenden Kommissaren und Kommissarinnen haben die Zuschauer über die Jahre eine starke Bindung aufgebaut. Eine der dienst- ältesten Figuren ist die der Lena Odenthal. Seit 1989 ermittelt die Kriminalhauptkommissarin, gespielt von Ulrike Folkerts, in Ludwigshafen. In 59 Folgen wurde sie zu einer der beliebtesten Serien-Darstellerinnen. Daniel Stein erklärt:
"In der Soziologie spricht man oft von parasozialer Interaktion. Dass Leute das Gefühl haben, dass sie ein persönliches, ja fast intimes Verhältnis zu diesen Figuren haben. Also wenn sie "Tatort"-Gucker sind und seit zehn oder auch 25 Jahren, im Fall von Lena Odenthal, einer Figur folgen, dann ist das ja mehr, als nur eine fiktionale Figur auf dem Bildschirm. Dann ist das eine Figur, die sie über Jahre, Jahrzehnte eng begleitet in ihrem Leben, also ganze Lebensabschnitte."
Anders als bei den TV-Serien "Tatort" oder "Lindenstraße" kommen uns die leicht verdaulichen Seifenopern wie "Rote Rosen", "Sturm der Liebe" oder "Gute Zeiten, schlechte Zeiten" via Bildschirm jeden Tag ins Haus. Für die Macher der Seifenopern ist es eine permanente Herausforderung, sich für jeden Tag immer wieder neue Geschichten ausdenken zu müssen, auf Quotenfang zu gehen und die Zuschauer an die Serie zu binden, so Stein:
"Sie tun das, indem sie eine Strategie verwenden, die man Zopfstrategie nennt. Das heißt, ein großer Konflikt wird immer abgeschlossen, während der nächste beginnt. Sie haben also nie eine richtige Pause, nie einen richtigen Stopp, sondern die Konflikte überlappen sich, und führen das Ganze immer fort, so dass man das Gefühl hat, man kann nicht aufhören, ohne etwas Wichtiges zu verpassen."
Viele Kritiker befürchten, dass der übermäßige Konsum von Serien zu einer sozialen Vereinsamung führen könnte. Doch Daniel Stein sieht das anders:
"Es ist zumindest interessant, dass sehr viele Kommunikation stattfindet. Und um Kommunikation über Serien überhaupt vollziehen zu können, muss ich mich mit anderen unterhalten. Man kann ja auch in die sozialen Netzwerke gehen. Es müssen nicht immer Face-to-Face-Interaktionen sein. Die Kommunikation über Serien ist ein ganz starker Bestandteil von Serien. Und das unterscheidet sie auch von Werken. Man kann sich zwar über Romane unterhalten, aber Serien erfordern das viel stärker."