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Medien in Ungarn
Alarmstufe Gelb

In Ungarn ist der Chefredakteur der größten unabhängigen Nachrichten-Website entlassen worden. Zuvor hatte sich ein regierungsnaher Unternehmer in die Geschäfte des Verlags eingekauft. Es ist nicht das erste Mal, dass Kritiker von Präsident Orbán auf diese Weise mundtot gemacht werden.

Andrea Beer im Gespräch mit Sebastian Wellendorf / Text von Michael Borgers |
Das "Unabhängigkeitsbarometer" der ungarischen Nachrichtenseite Index.hu zeigt "in Gefahr" an.
Das "Unabhängigkeitsbarometer" der ungarischen Nachrichtenseite Index.hu zeigt "in Gefahr" an. (Screenshot)
Wie unabhängig können Medien arbeiten? In Europa sollte sich diese Frage eigentlich nicht stellen, ist das Recht auf freie Meinungsäußerung und Medienfreiheit doch durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantiert: einem Katalog von Grundrechten, der eine Basis für Gelingen und Zusammenhalt der Europäischen Union darstellt.
In Ungarn ist die Frage dennoch relevant - und das immer mehr, seit Viktor Orbán vor zehn Jahren (zum zweiten Mal) als Ministerpräsident an die Regierung gekommen ist. Damals rangierte das Land mit seinen rund zehn Millionen Einwohnern noch auf Platz 23 der Rangliste für Pressefreiheit, nur knapp hinter Deutschland oder Großbritannien. Inzwischen führt die internationale Organisation Reporter ohne Grenzen Ungarn auf Platz 89 dieser Liste.
Dieser Abstieg Ungarns sei kein Zufall, sagte Andrea Beer vom ARD-Studio Südosteuropa im Deutschlandfunk. Viele private Medien seien inzwischen im Besitz von Vertrauten Orbáns, im öffentlich-rechtlichen Rundfunk könne sich der Präsident äußern, ohne kritisiert zu werden. "Orbán und seiner Fidesz-Partei ist unabhängiger Journalismus ein Dorn im Auge - und damit auch Index", so Beer.
Regierungskritische Tageszeitung stellt Betrieb ein
Drei Tage nach der Parlamentswahl in Ungarn stellt die regierungskritische Zeitung "Magyar Nemzet" ihren Betrieb ein. Ihr Eigentümer war einst mit Regierungschef Viktor Orbán befreundet, heute sind sie zerstritten. Jetzt fehlt dem Blatt das Geld.
Unabhängigkeit "in Gefahr"
Vor zwei Jahren hat die erfolgreiche Online-Nachrichtenseite Index deshalb auf seiner Startseite ein Barometer eingeführt: Einen Halbkreis in den Farben Grün, Gelb und Rot, die für "unabhängig", "in Gefahr" und "nicht unabhängig" stehen. Lange zeigte der Pfeil "unabhängig" an – ein Grund für den Erfolg der Redaktion: Index ist die am meisten besuchte Nachrichten-Website in Ungarn. Sie wird von "eurotopics", einer europäischen Presseschau der Bundeszentrale für politische Bildung, als "eines der letzten regierungsunabhängigen journalistischen Schwergewichte im Land" bezeichnet.
Doch nun ist das "in Gefahr", also: Alarmstufe Gelb. Mitte Juni war bekannt geworden, dass der Unternehmer Miklos Vaszily 50 Prozent der Anteile der Werbeagentur von Index gekauft hat. Die Sorge der Redaktion: Index könne es ähnlich ergehen wie der Nachrichtenseite Origo, die sich unter Vaszilys Führung von einer unabhängigen Nachrichtenseite zu einem regierungstreuen Medium gewandelt hat.
"Wir sind von einer externen Einflussnahme betroffen, die das Ende des Newsrooms bedeuten könnte", schrieben damals gut 90 Angestellte, unter ihnen Chefredakteur Szabolcs Dull – der zuvor bei Origo gearbeitet hatte. "Die Index-Redaktion zu zerschlagen, wäre verheerend für die Pressefreiheit in Ungarn", warnte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen in Deutschland.
Orbán will Medien bei "Panikmache" bestrafen
Im Windschatten der Corona-Krise greift Ungarns Regierungschef Orbán nach der absoluten Macht. Wer "Falschinformationen" oder "Panik" verbreitet, kann bis zu fünf Jahre ins Gefängnis gehen. Unabhängige Journalisten fürchten um den Rest Pressefreiheit. Die nötige Mehrheit für seine Pläne hat Orbán.
Entlassung folgt bekanntem Muster
Doch genau das scheint nun einzutreten: Genau einen Monat später leitet Dull nicht mehr die Index-Redaktion. Er wurde entlassen. In einem Brief des Stiftungspräsidenten, der hinter dem Verlag steht, heißt es, Dull habe interne Dokumente an andere Medien weitergegeben. Ebenso wurden wirtschaftliche Gründe genannt.
Er habe immer wieder gewarnt, dass die Redaktion in Gefahr sei, erklärte der geschasste Journalist schriftlich. Und die meisten Index-Journalisten stehen hinter ihm: Sie schreiben in einem offenen Brief, Dull sei entlassen worden, weil er klargemacht habe, "dass er nicht vor Erpressung einknickt".
Werden private, bislang unabhängige Medienunternehmen in Ungarn übernommen, sei das häufig politisch motiviert, sagte Daniel Hegedüs, Analyst für Internationale Beziehungen und Politik beim "German Marshall Fund of the United States", dem paneuropäischen Fernsehsender Euronews.