Von einem Sinneswandel bei Ungarns Regierungschef Viktor Orbán und dessen national-konservativer Fidesz-Partei will Gábor Polyak nicht sprechen. Aber seitdem die regierende Fidesz im Herbst vergangenen Jahres unerwartet Verluste einstecken musste, könne das jedoch einen Wendepunkt für die Arbeit unabhängiger Journalistinnen und Journalisten bedeuten, meint Medienwissenschaftler Polyak.
"Ich hoffe, schon. Also, was ich sehe: Ich lebe in einer kleinen Stadt in Ungarn, und da gab es ganz schnell einen Wechsel in der Führung von der lokalen Zeitung. Es gibt einen neuen Chefredakteur. Und es funktioniert als eine Zeitung. Das ist die 'Pecsma', 'Pecs heute', Pecs ist der Name von der Stadt."
Dort seien wieder Texte zu lesen, die sich kritisch mit der Fidesz-Partei auseinandersetzten, die über die Gründe der Wahlniederlage von Orbán berichteten. Lange Zeit habe das als undenkbar gegolten. "Jetzt haben wir in meiner Stadt wieder Journalismus."
Zudem könne man beobachten, so Polyak, dass unabhängige Journalisten wieder Antworten auf unbequeme Fragen erhielten. Und das passiere nicht nur in Ungarns fünftgrößter Stadt und seiner Zeitung, sondern auch anderswo im Land. Kleine Lokalzeitungen würden wieder ihren Kernaufgaben nachgehen, kritische Fragen stellen und keine Staatspropaganda mehr verbreiten.
Noch kein Ende der Erosion der Pressefreiheit
Gábor Polyak – der in Wien studiert und in Pecs promoviert hat und habilitiert wurde - ist ein ausgewiesener Kenner der ungarischen Medienlandschaft. Und Gründer und Leiter der Denkfabrik Mertek Media Monitor; einer Nichtregierungsorganisation, die sich mit aktuellen Fragen der Medienpolitik in Ungarn und damit der Erosion der Pressefreiheit auseinandersetzt.
Und diese Entwicklung sei, trotz aller positiven Signale, längst nicht vorüber, betont Gábor Polyak. Wie nachhaltig die Entwicklung sei, ob die kleinen Zeitungen auch noch Ende des Jahres über brisante Themen berichten können, werde die Zeit zeigen. Und, er fügt hinzu: Auch wenn sich im Kleinen etwas tue – die allgemeine Situation in Ungarn habe sich nur wenig verändert. Nahezu alle Medien würden weiterhin staatlich kontrolliert, stellt der Wissenschaftler fest – und das in einem EU-Staat unterstreicht er: "Es wäre auch sehr wichtig, unabhängige Internet-Portale oder Hörfunk-Sender zu haben. Das ist auch nicht so einfach."
Polyak kritisiert, dass Brüssel nichts gegen den Einfluss von Orbán unternommen habe. Die meisten großen ungarischen Medien würden staatlich kontrolliert und im Besitz politischer Freunde Orbans sein. Damit verstoße Ungarn gegen die Rechtsstaatlichkeit, die Grundrechte und gemeinsamen Werte der EU. Polyak fordert daher ein Strafverfahren gegen Ungarn, doch die EU reagiere nicht.
"Meine Kritik ist: Es geht immer so langsam, es passiert nichts. Wir haben das in 2016 eingereicht, und bis jetzt gibt es keine wirkliche Antwort darauf. Wir wissen nicht, ob etwas im Hintergrund passiert. Und die Europäische Kommission muss ihre Verantwortung in diesem Fall gerecht werden."
Expertin: Ungarn warnendes Beispiel für Europa
Polyak kläre "in einzigartiger Weise" über "Hintergründe und Konsequenzen der fortschreitenden Medienunfreiheit in Ungarn" auf, findet die Potsdamer Slavistik-Professorin Susanne Strätling. Hervorzuheben sei seine Analyse, was passiere, wenn, wie in Ungarn geschehen, die Rundfunkgebühren abgeschafft und durch staatliche Finanzierung ersetzt würden. Unabhängige Medien würden die Regierenden dann im Handumdrehen zu Propaganda- und Manipulationsinstrumenten machen. Daher seien die Arbeiten Polyaks, auch für die aktuelle Debatte hierzulande, ein warnendes Beispiel, sagt die Osteuropa-Expertin.
"Was wir in Ungarn beobachten können, dass der öffentliche Rundfunk übernommen wird vom parteipolitischen System. Und die Rundfunkgebühren in der besten aller Welten sind gerade diejenigen, die garantieren, dass der öffentliche Rundfunk das sein kann, was man überparteilich nennt, überparteilich und unabhängig."
Seit dem Amtsantritt von Premierminister Viktor Orbán ist Ungarn auf der Rangliste der Pressefreiheit der internationalen Organisation "Reporter ohne Grenzen" von Platz 23 auf Platz 87 gerutscht. Dass sich das ändert, darauf hofft Gábor Polyak. Und meint: Nur die Zuversicht, sie sei – trotz ermutigender Anzeichen – nicht sehr groß.
Gábor Polyak wurde am 16.01.2020 in Potsdam der "Voltaire-Preis für Toleranz, Völkerverständigung und Respekt vor Differenz" verliehen. Der Voltaire-Preis wird von der Friede Springer Stiftung finanziert und wird seit 2017 jedes Jahr an einen Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin vergeben, der oder die sich für die Freiheit von Forschung und Lehre sowie für das Recht auf freie Meinungsäußerung einsetzt.