Die zweite Welle steht bevor. Nicht epidemiologisch, sondern medial: Wie umgehen mit Leuten, die gerade auf die Straße gehen? Was vor fünf Jahren der "besorgte Bürger" war, ist nun der sogenannte Hygienedemonstrant, der gegen Corona-Maßnahmen protestiert. Natürlich gibt es DEN Demonstranten nicht, aber medial und diskursiv faszinierend ist eben zuerst die krasse Spielart: die Leute, die noch mal aggressiver auftreten als Pegida-Anhänger und noch mal greller politische Gesten quer durch alle Lager kombinieren. Für Talkshows empfiehlt sich außerdem ein neuer Schub an Leuten mit bekannten Namen, die sich im Zuge der Corona-Krise als Widerstandskämpfer in dieser Sache entdeckt haben.
Das ist ermüdend aus zwei Gründen. Zum einen befinde ich mich in einem performativen Widerspruch, wenn ich mich hier mit einem Thema befasse, von dem mich meine, dass die mediale Präsenz dieses Themas seine Relevanz für den gesellschaftlichen Diskurs völlig übersteigt.
Sie wollen die öffentliche Debatte kapern
Und zum anderen dauert mich, dass Medien und Redaktionen, Kolleginnen und Kollegen, offenbar nichts gelernt haben. Denn man könnte sich aus der Erfahrung mit dieser Art des "besorgten Bürgers" doch mal selbstkritisch fragen, wann es in den letzten Jahren denn gelungen ist, mit ihm und seinen Zeitgenossen ein konstruktives Gespräch zu führen. Wann haben sich denn Leute von der Kraft des besseren Arguments betören lassen, denen es überhaupt nicht ums Argumentieren geht?
Anders gesagt: Wieso können Medien nicht begreifen, dass nicht jeder, der sich auf Meinungsfreiheit beruft, auch an einem Austausch von Meinungen interessiert ist? Dass das Mit-dem-Grundgesetz-Rumfuchteln noch nicht bedeutet, an einer Diskussion von Standpunkten teilnehmen zu wollen? Sondern dass solche Gesten nur dazu dienen, sich in die öffentliche Debatte zu bomben, um dort kindisch die kritiklose Durchsetzung der eigenen Weltsicht zu fordern. Und zwar sofort.
Meinungsfreiheit ist Alltag
Diese Missverhältnisse, diese Widersprüche sind kein Zufall, sie sind wesentlich für die Coronaproteste: Die Stasi-Vergleiche und Anne-Frank-Bilder werden gebraucht, um eine Parallelwelt zu dekorieren, in der das mit dem eigenen Opferstatus stimmt. Denn die Realität gibt den nicht her. In der Realität ist es nicht so, dass die Meinungsfreiheit abgeschafft ist, dass es "in den Medien" keine Debatte über die Pandemie-Maßnahmen gegeben hätte. Schon auf dem Titel des "Spiegel"-Hefts von Ende März, eine Woche nach den Kontaktsperren, stand: "Wie kommen wir da wieder raus?" Und im Leitartikel hieß es:
"Ja, man darf. Man muss sogar. Die freiheitliche Demokratie lebt von der offenen Debatte, von der Abwägung von Gütern. Es ist weder unmoralisch noch zynisch, zu benennen, was gegeneinander abgewogen werden muss."
Ich könnte hier stundenlang Belege zitieren, dass es eine Debatte gegeben hat und noch gibt und nicht wochenlang uniforme Hausarrestsfantasien. Aber würde das die Hygienedemonstranten überzeugen? Eben.