Stefan Schulz hat sein Buch der Erinnerung an Frank Schirrmacher gewidmet. Drei Jahre lang arbeitete er bei dem Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in der Kulturredaktion und erlebte dort, kurz vor dessen Tod im Juni 2014, wie Medienkulturen aufeinanderprallen können. Ein langer Text aus dem Feuilleton sollte in die digitale Ausgabe faz.net übernommen werden.
Die Online-Redaktion gab zu bedenken, dass das kaum jemand lesen würde, auch die Software "Chartbeat", mit der die Anzahl der Klicks überwacht wird, hatte bereits im Vorfeld rote Warnsignale gesendet. Frank Schirrmacher war empört: Es seien doch wohl immer noch die Herausgeber der Zeitung, die den Inhalt bestimmten, und nicht eine Klick-Zähl-Maschine! Dabei, so Stefan Schulz, sei gerade das längst Alltag geworden.
Heute ist es noch schlimmer. Die meisten Leser finden nämlich zur Online-Ausgabe einer Zeitung nicht über deren eigene Website, sondern über Facebook. Dort aber wissen die Algorithmen genau Bescheid, wofür sich der einzelne Nutzer interessiert, und sortieren daher die anderen Texte einfach aus. Stefan Schulz kann konkrete Zahlen nennen:
"Die FAZ hat zum Beispiel für sich ermittelt, dass nur 15 Prozent der Inhalte, die die FAZ alle Viertelstunde auf Facebook publiziert, den Lesern angezeigt wird. Also 85 Prozent wird aussortiert, weil Facebook findet, das, was die Zeitung ihren Lesern zur Verfügung stellt, ist für sie nicht interessant."
Software-Entwickler haben Einfluss auf Informationsfluss
Das gilt sogar für Leser, die bekundet haben, dass sie an den Updates der Zeitung interessiert sind. Die Software-Entwickler im Silicon Valley haben also entscheidenden Einfluss auf die Informationen, die deutsche Nutzer erhalten. Und das hat weitreichende Konsequenzen, meint Stefan Schulz:
"Die Frage, die sich stellt, wenn man von diesem Niklas Luhmann-Satz ausgeht "Alles, was wir über die Welt wissen, wissen wir aus den Massenmedien", und zwischen den Massenmedien und uns gibt es jetzt diese großen Unternehmen, die mit eigenen Redaktionen und Algorithmen, die wir nicht durchschauen, unsere Welt uns darlegen, - nach welchen Standards arbeiten die eigentlich? Und was wir wissen, ist: nicht nach den journalistischen, ethischen, juristischen, die wir kennen. Und damit bleibt diese Frage offen."
Wachsender Vertrauensverlust in die Medien
Aber in der Macht von Facebook oder Google sieht Stefan Schulz nicht die einzigen Gründe für die Krise der traditionellen Medien. Der Vertrauensschwund habe lange vor dem digitalen Wandel begonnen und sei vor allem der politischen Berichterstattung anzulasten. Die konzentriere sich auf die nationale Politik und deren Exponenten, statt Hintergründe zu erhellen.
Etwa darüber, wie in Brüssel Entscheidungen zustande kommen, wie Lobby-Vertreter arbeiten, oder welche Macht die Verwaltungen haben. Speziell die Abendnachrichten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hätten kaum einen nennenswerten Informationswert, weswegen Schulz dezidiert empfiehlt, sie zu ignorieren.
Den Zeitungen wirft der Autor vor, dass sie den digitalen Wandel verschlafen hätten, sowohl inhaltlich als auch in ihrem Festhalten an den Papierausgaben. Es wäre ökonomisch viel sinnvoller, meint er, die Printprodukte einzustellen und den bisherigen Abonnenten einfach ein Tablet zu schenken. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass die Preise für die Online-Werbung in den letzten Jahren gefallen sind.
Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Stefan Schulz im Verzicht auf Werbung. Das hat er jedenfalls bei seinem eigenen Projekt vor, denn er ist dabei, eine Tageszeitung zu gründen, eine Online-Zeitung natürlich.
"Was wir heute wissen: Der Vertrieb ist fast kostenlos, also könnte man die Werbe-Einnahme-Seite auch weglassen und man hätte dann eine Leser-finanzierte Zeitung. Unser Konzept steht, auch wenn ich jetzt wenig dazu sagen kann, das einzige was uns noch fehlt, ist ein finanzieller Anschub, wir werden sehen, ob das klappt."
Schluss mit emotionalisierenden Häppcheninfos
"Und das, was eben dazu kommt durchs Internet, durch diese Omnipräsenz von Medien, die wir überall konsumieren, ist dann eine unüberschaubare Pluralität von Publizisten, die ja auch wieder für sich eine Qualitätssicherung darbieten, also es muss gar nicht der einzelne, seriöse und objektive Journalist sein, sondern er kann sich ruhig mit Haltung und Humor dem Hörer und dem Leser darbieten - sich dann aber auch dem Widerspruch aussetzen."
Das Buch "Redaktionsschluss" behandelt brennende Themen, aber es ist nicht nur eine Diagnose der aktuellen Mediensituation, sondern auch ein Spiegel derselben: Oft apokalyptisch gestimmt, voller Pauschalurteile und nicht ohne Widersprüche, vermittelt es eine gewisse Ratlosigkeit. Dann aber verströmt es auch wieder großen Optimismus für Experimente in der schönen neuen digitalen Welt.
Stefan Schulz: "Redaktionsschluss - Die Zeit nach der Zeitung" Carl Hanser Verlag München 2016, 304 Seiten, 21,90 Euro