Sandra Schulz: Die Diskussion zwischen den Jahren hatte alles, woraus öffentliche Aufregung gemacht ist: In der Diskussion um die Satirefassung des ja sowieso Quatschlieds "Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad" ging es gefühlt um alles. Weil die Oma in dem Lied zur Umweltsau erklärt wurde, wurde das Lied gesehen als Angriff der Jungen auf die Alten, und auch über die schnelle Entschuldigung von WDR-Intendant Tom Buhrow gab es viel Empörung.
Zusammengenommen konnte man die Debatte als einen weiteren Beleg sehen für die Diagnose, die der Tübinger Medienwissenschaftler Professor Bernhard Pörksen schon mit seinem letzten Buch gestellt hat, Titel: "Die große Gereiztheit". Uns ist das sogenannte "Oma-Gate" ein Anlass mehr, zu fragen, welche Debattenkultur wir wollen. Schönen guten Morgen, Bernhard Pörksen!
Bernhard Pörksen: Morgen, ich grüße Sie!
"Zwei unterschiedliche Formen der Polarisierung"
Schulz: Wie stark war bei Ihnen das Magengrummeln, mit dem Sie jetzt diese Debatte verfolgt haben?
Pörksen: Nun, in der Tat, es schien mir als ein Beispiel für weitgehend sinnlose, plötzlich hervorschießende Empörung, die große Gereiztheit, die dann dazu führt, dass sich am Ende des Tages alle übereinander aufregen und die Empörung über die Empörung der jeweils anderen Seite gleichsam zum kommunikativen Normalfall wird. Mir ist noch etwas klargeworden: Nämlich, man kann an diesem Beispiel, glaube ich, sehen, dass es zwei unterschiedliche Formen der Polarisierung gibt. Es gibt eine durchaus erkenntnisträchtige Polarisierung: Gegensätze werden auf einmal greifbar, Alternativen des Denkens und des Handelns werden auf einmal sichtbar. Und es gibt etwas, was man die populistische oder die Spektakelpolarisierung nennen könnte, die nutzlose, sinnlose, absolut nicht erkenntnisfördernde Konfrontation. Ich denke, eine solche haben wir am Beispiel dieser aus meiner Sicht tatsächlich schlechten Satire in den letzten Tagen beobachten können, eine Soforteskalation von Debatten.
Schulz: Aber erklären Sie uns, warum die Erregung in dem Fall aus Ihrer Sicht sinnlos war. Omas als Umweltsau zu bezeichnen, das ist schon eine heftige Schmähung, und umgekehrt, diejenigen, die sich über Tom Buhrow aufgeregt haben und seine schnelle Entschuldigung, denen ging es ja auch um nichts weniger als um die Pressefreiheit, um die Meinungsfreiheit in unserem Land.
Pörksen: Natürlich, Sie sehen hier, die pauschale Abwertung einer ganzen Gruppe von Menschen ist das Eskalationsmittel überhaupt, um Erregung zu forcieren. Aber was sich hier aus meiner Sicht zeigt: Die entscheidende Frage ist doch, wie kann man als Gesellschaft – und die steht hinter einer so, wie gesagt, schlechten Satire oder auch hinter der Debatte oder überdeckt diese Debatte vielmehr -, wie kann eine seriöse Klimapolitik gelingen jenseits der sinnlosen Konfrontation, jenseits der sinnlosen Polarisierung?
Wir sprechen dann über mehrere Tage hinweg in diesem Land über ein solches Lied, über solche Beleidigungen und Gegenbeleidigungen; bis hin zu Morddrohungen eskaliert die ganze Geschichte. Intendanten schalten sich zu, ein Ministerpräsident greift ein. Aber das ist doch ein Beispiel dafür, dass die Grundsatzfrage, was ist wirklich wichtig, was ist tatsächlich bedeutsam, auf eine denkbar, aus meiner Sicht, vorsichtig formuliert, denkbar mickrige und sinnlose Art und Weise beantwortet wird.
Emotion ersetzt Vision
Schulz: Wir hatten rund um den Klimagipfel ein anderes, vielleicht ein bisschen ähnliches Beispiel, da ging es um die Bilder von Greta Thunberg, die da auf dem Fußboden der Deutschen Bahn einen Selfie gemacht hat und in die Welt rausgetwittert hat, dass sie da jetzt in der Deutschen Bahn auf dem Fußboden sitzt. Da gab es dann auch einige Aufregung drum und Twitter-Aktivitäten. Sie haben es jetzt gerade geschildert, das sind dann Diskussionen um eigentliche Nebensächlichkeiten. Wer bestimmt denn, was die Nicht-Nebensächlichkeiten sind?
Pörksen: Das bestimmen natürlich wir alle, das bestimmt kein einzelner, um Gottes Willen, oder keine einzelne Institution oder so. Das wäre ganz gewiss falsch, aber wir müssen darüber debattieren: Was ist wirklich wichtig, was ist tatsächlich relevant? Denn im Moment erleben wir, das Prinzip der Interessantheit schlägt das Prinzip der Relevanz. Im Untergrund dieser Gesellschaft rumort ja eine ganz große Frage: Wie kann eine seriöse, wirksame, tatsächlich effektive Klimapolitik ins Werk gesetzt werden? Da schalten sich die unterschiedlichen Player zu. Wir erleben im Moment, wie das Klimathema aus meiner Sicht auf eine fatale Weise zur sinnlosen Polarisierung missbraucht wird, also die Auseinandersetzung unmittelbar ins Hypermoralische rutscht, die persönliche Diffamierung regiert.
Die entscheidende Frage ist ja politischer Natur: Wie kann seriöse Klimapolitik aussehen, und wie kann dieser Sprung, dieser Lebensstilwandel gelingen? Wir erleben im Moment - und das würde ich so sehen -, dass wir als Öffentlichkeit hochemotional agieren, aber dass die Schlüsselfrage einer Vision ökologischer Modernisierung gar nicht diskutiert, gar nicht besprochen wird. Das liegt aus meiner Sicht an dieser Neigung zur Spektakelpolarisierung unter der gegenwärtigen Öffentlichkeit. Die Folge ist, dass Emotion Vision ersetzt.
Redaktionelle Gesellschaft statt Hysterie
Schulz: Wenn Sie jetzt darauf anspielen, dass das Kriterium interessant, dass das die anderen Nachrichtenkriterien ersetzt, da sprechen Sie natürlich ein Dilemma an, mit dem wir hier in den Medien, auch hier beim Deutschlandfunk quasi jeden Tag zu tun haben. Wir entscheiden ja über Nachrichten, ob wir sie melden, anhand von drei Kriterien: Ist die Nachricht relevant, ist sie neu, und ist sie interessant. Sich von diesem Kriterium interessant zu verabschieden, das hieße natürlich auch, sozusagen aktiv den Interessen unserer Hörer, unserer Leser, wenn wir insgesamt über die Medien sprechen, eine Absage zu erteilen.
Pörksen: Absolut, und das wäre natürlich ein vollkommen unsinniger Vorschlag, aber schon ein Dilemmabewusstsein ist aus meiner Sicht ein Schritt in die richtige Richtung, überhaupt sich klarzumachen, was ist tatsächlich bedeutsam, und wie verknüpft man Empörung mit gesellschaftlicher Relevanz. Das schiene mir schon ein Schritt in die richtige Richtung. Ganz generell, ganz allgemein gesprochen, in der gegenwärtigen Mediensituation, in dieser gigantischen Öffnung des kommunikativen Raumes, die ja erst mal etwas Wunderbares hat, jeder kann sich zuschalten, steckt aus meiner Sicht ein großer, noch unverstandener Bildungsauftrag.
Wir müssen Techniken der Abkühlung trainieren unter den gegenwärtigen Bedingungen. Wir müssen uns - und zwar jeder Einzelne - mit der Frage beschäftigen, was ist tatsächlich wichtig, was verdient es, geteilt, geliket und kommentiert zu werden und was nicht. In gewissem Sinne gilt, die Grundfragen, die in einer anderen Zeit nur Journalistinnen und Journalisten vorbehalten waren, nämlich, was ist interessant, glaubwürdig, relevant, diese Grundfragen müssen heute zu einem Element der Allgemeinbildung werden. Ich nenne es die Vision der redaktionellen Gesellschaft. Meine Vorstellung lautet, wir kommen irgendwann nach dieser Übergangsphase der Hysterisierung in dieser Geschichte der Medienevolution, wir kommen irgendwann von der digitalen Gesellschaft, in der wir heute leben, zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft.
Medienpraxis muss in der Schule eingeübt werden
Schulz: Herr Pörksen, genau, diesen Vorschlag haben Sie ja gemacht in Ihrem Buch "Die große Gereiztheit". Wie kommen wir dahin?
Pörksen: Ich denke, wir müssen in den Schulen ansetzen, wir brauchen ein eigenes Schulfach als Labor der redaktionellen Gesellschaft, in dem auch Medienpraxis geübt wird, in dem man sich mit der ungeheuren Irrtumsanfälligkeit und Hysterisierbarkeit des Menschen auseinandersetzt. Wir kommen nicht darum herum, auch die Plattformen auf eine möglichst transparente Art und Weise zu regulieren, sie erst mal zu zwingen, ihre eigenen Spielregeln offenzulegen, also diese algorithmische Informationssortierung, die ja die Wut und die Emotionen belohnt, wirklich sichtbar zu machen. Viele wissen ja gar nicht, wie dort vorgegangen wird. Ich glaube, auf dem Weg in die redaktionelle Gesellschaft der Zukunft, die ich mir hier fröhlich herbeifantasiere, braucht es auch einen Journalismus, der maximal dialogorientiert und maximal transparent ist.
Schulz: Und wir brauchen natürlich auch die Erreichbarkeit sozusagen aller Gruppen. Wir wissen, dass mehr und mehr von den jüngeren Leuten ausschließlich über die US-Digitalplattformen sich informieren. Lässt sich das so einfach in den Griff kriegen, indem man sagt, dann haben sie das noch mal als Spezialfach in der Schule?
Pörksen: Ich denke, es wäre zumindest ein Anfang. Sehen Sie, wenn Sie an den Digitalpakt denken und ähnliche Bildungsanstrengungen, dann sehen Sie ja, die digitale Bildung wird ungeheuer mickrig konzipiert, ungeheuer mickrig und technologiegetrieben eigentlich aufgefasst, aber wir brauchen eine Wertedebatte, und die muss in der Schule schon beginnen. Ich denke, das wäre ein Anfang, der bisher noch vollkommen unversucht geblieben ist.
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