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Medikamente als Krankmacher

Medizin. - Schätzungen zufolge sterben jedes Jahr Hunderttausende Menschen an unvorhersehbaren Nebenwirkungen von Medikamenten. Weil die Ursache dafür im Erbgut verborgen liegt, suchen Pharmakologen jetzt in den Genen nach den fatalen Mechanismen.

    Lipobay oder das entzündungshemmende Medikament Vioxx sind nur die berüchtigtsten Substanzen, die statt Linderung noch mehr Unglück über viele Patienten brachten. Nach aktuellen Schätzungen sterben an den Nebenwirkungen von Medikamenten jährlich mehrere hunderttausend Menschen weltweit. Dabei muss nicht der Wirkstoff selbst oder eine falsche Anwendung durch den Arzt grundsätzlich die Ursache sein - vielmehr liegt der Grund häufig schlicht in den Genen der Patienten. Sie entscheiden darüber, ob eine normalerweise therapeutische Menge eines Stoffes wie gewünscht wirkt oder bereits eine gefährliche Überdosis darstellt. Damit rückt das Erbgut auch immer mehr ins Visier der Pharmakologen. Bis Dienstag erörtern Experten in Prag auf dem Jahrestreffen der Europäischen Gesellschaft für Humangenetik, wie solche Gefahren rechtzeitig aufgedeckt werden können. Über den mitunter schmalen Pfad zwischen Dosis und Überdosis entscheidet beispielsweise, wie schnell eine Substanz durch die so genannten P450-Enzyme der Leber verdaut wird. "Eines dieser P450 Enzyme kann 25 Prozent aller Medikamente überhaupt abbauen. Das Gen dafür kommt im Erbgut der Menschen in unterschiedlicher Zahl vor. Bis zu 13 Kopien liegen dafür manchmal auf einem Chromosom. Deshalb kann ein Mensch solche Medikamente möglicherweise 14-mal schneller abbauen als ein anderer", berichtet Magnus Ingelman-Sundberg vom schwedischen Karolinska-Institut. In Westeuropa besitzen, so erläutert der Toxikologe, rund 25 Millionen Menschen dieses Enzym gar nicht, während 20 Millionen sogar überdurchschnittlich viel davon in ihrer Leber tragen und Arzneien entsprechend schneller abbauen.

    Ursprünglich, so vermuten Pharmakologen, entwarf die Evolution P450, um damit bestimmte Alkaloide - Pflanzengifte - unschädlich zu machen. So zeigen Studien, dass sich im Erbschatz in der Bevölkerung von Ostafrika sowie der arabischen Halbinsel extrem viele Kopien der P450-Gene finden – möglicherweise infolge einer Anpassung an das Nahrungsangebot, meint Ingelman-Sundberg: "Die Enzyme entstanden zur Entgiftung von Stoffen in der Nahrung. Die Struktur vieler Medikamente ähnelt aber Pflanzenalkaloiden und sie werden deshalb von demselben Enzym angegriffen." Entsprechend schnell bauen die Betroffenen solche Wirkstoffe ab, sie sprechen geringer auf die heilenden Effekte an und benötigen daher höhere Dosen. Im extremen Gegenteil fehlt jedoch das Gen für P450 - diese Patienten dürfen nur sehr wenig an darüber abgebauten Arzneien erhalten. Ein genetischer Test, der zeigt, wie viel P450 eine Person entwickelt, würde also Hinweise auf die optimale Dosis liefern und die Risiken für Nebenwirkungen deutlich senken. "Die Pharmakogenetik könnte einem Mediziner das Selbstvertrauen dazu geben, bei Bedarf auch eine fünffache Dosis zu verschreiben, was er ohne einen Gentest lieber lassen sollte."

    Bereits heute, so berichten Experten in Prag, werde Pharmakogenetik bei der Entwicklung neuer Medikamente einbezogen. Mit ihrer Hilfe lasse sich etwa bestimmen, welchen Patientengruppen neue Medikamente wirklich helfen und wie Unglücke wie im Fall von Vioxx vermieden werden können. Auch spezielle Testgruppen ließen sich mit geeigneten Tests zu Studienzwecken rekrutieren. Schwieriger sieht die Sache indes bei älteren Präparaten aus, deren Patentschutz abgelaufen ist, erläutert Magnus Ingelman-Sundberg: "Da sind große, vorausschauende Studien sehr teuer, die zeigen würden, ob sich eine Dosierung abhängig von pharmakogenetischen Tests rechnet. Deshalb stecken wir jetzt in der Zwickmühle, dass niemand solche Studien finanzieren will, die wir für die altbewährten Medikamente dringend bräuchten." Dabei würde sich solche Forschung mindestens genauso lohnen wie die Entwicklung neuer Therapien oder Grundlagenforschung, die die öffentliche Hand fördert - zumindest, wenn die Rechnung stimmt, die der Schwede Magnus Ingelmann-Sundberg aufmacht: "Meiner Schätzung nach könnten pharmakogenetische Vorhersagen helfen, zehn bis 20 Prozent aller ernster Arzneimittelnebenwirkungen zu vermeiden und die Therapie noch häufiger einfach zu verbessern." In Europa, so veranschaulicht Ingelman-Sundberg, könnten so rund 100 Millionen Menschen von pharmakogenetischen Tests profitieren.

    [Quelle: Grit Kienzlen]