Wenn man einen Demenzkranken an einer Forschung teilnehmen lasse, der das nicht mehr abschätzen und sich nicht mehr artikulieren könne, so der Mediziner, dann begebe man sich in eine Grauzone. Die solle man aber nur betreten, "wenn man sich ganz konkrete Vorteile davon versprechen kann". Genau in diesem Punkt sieht Nagel aber derzeit "eine Schwierigkeit". Denn die Alzheimerforschung habe zuletzt zwar interessante Ergebnisse hervorgebracht. Diese beträfen aber "eher die Verhütung der Erkrankung als die Behandlung der Erkrankung". Und bei Studien zur Verhütung der Erkrankung könne man mit Patienten arbeiten, die noch in der Lage seien, ihre Einwilligung zu geben.
Das Interview in voller Länge:
Jürgen Zurheide: Gelegentlich geht es ja um das Kleingedruckte oder eigentlich nur um ein Wort. Das ist jetzt ein sehr allgemeiner Satz, aber wenn ich Ihnen erkläre, worum es geht, dann werden Sie es gleich verstehen. Ich nenne Ihnen zunächst die beiden Begriffe. Der erste ist "fremdnützige Forschungsteilnahme", der andere Begriff heißt dann "eigennützige Forschungsteilnahme". Jetzt werden Sie fragen, was behelligt der Moderator uns heute früh mit diesem Thema und mit diesen beiden Begriffen. Ich werde es Ihnen erklären. Die Kurzfassung heißt: Es geht darum, wie geht man bei Medizintests eigentlich vor, und wem nutzt es? Nutzt es mir selbst, oder nutzt es möglicherweise nur der Gruppe. Und genau diese wichtige Frage hat die Bundesregierung respektive das Bundeskabinett offensichtlich entschieden und gesagt, na ja, gelegentlich muss es dem Einzelnen, der an einem Versuch teilnimmt, nicht nutzen, sondern nur seiner Gruppe. Und da es um Demenzkranke geht, ahnen Sie, welche Brisanz hinter diesem Thema steckt. Genau darüber wollen wir reden mit Eckhard Nagel, Mediziner, Mitglied im Ethikrat und Universitätsprofessor. Ich begrüße ihn zunächst mal ganz herzlich am Telefon. Guten Morgen, Herr Nagel!
Eckhard Nagel: Guten Morgen, Herr Zurheide!
"Es geht um die Änderung des Arzneimittelrechts"
Zurheide: Herr Nagel, was plant die Bundesregierung? Erklären Sie uns das etwas besser, als ich es kann.
Nagel: Es geht um die Änderung des Arzneimittelrechts. Im Arzneimittelrecht wird vorgeschrieben, wie letztendlich Forschung auch mit Arzneimitteln stattzufinden hat. Und Sie haben es gerade schon in der Anmoderation deutlich gemacht. Bisher ist es so, dass eigentlich nur ein Patient oder auch ein Freiwilliger teilnehmen kann, der selbstbestimmt genau versteht, worum geht es bei dieser Forschung, der nachvollziehen kann, welche Risiken hat es auch für ihn. Und erst seine Zustimmung macht es möglich, dass Forschung stattfindet. Jetzt ist die Frage, ob jemand, der nicht versteht, weil er zum Beispiel demenzkrank, schon weit fortgeschritten, ist, ob er teilnehmen kann, und zwar auch unter der Maßgabe, dass es nicht mehr ihm selbst nützt, sondern nur noch seiner Gruppe, das heißt, allein Alzheimer-Kranken, die es in Zukunft geben wird. Und da ist eben eine Veränderung jetzt angedacht vonseiten des Bundeskabinetts, und das ist natürlich ein strittiger Punkt.
Zurheide: Da wird ja immer gesagt, im internationalen Vergleich brauche man so etwas für die Forschung. Ich komme gleich mit Ihnen auf die Bewertung. Erstmal dieser Hinweis, ist der richtig oder sagen Sie, da setze ich schon an, das halte ich für problematisch?
Nagel: Ich glaube, das muss man immer problematisch sehen, weil wir für viele Fragestellungen natürlich unklare Regelungen oder auch weniger starke Regelungen im Ausland haben. Hier kommt auch wieder das Thema Europa natürlich hinzu, weil Arzneimittelforschung sollte möglichst in Europa nicht unterschiedlich an verschiedenen Stellen, in verschiedenen Ländern vorgetragen werden, sodass das Europaparlament entsprechende Vorgaben gemacht hat und die Bundesregierung argumentiert jetzt auch, dass man sich anpasst an das, was im europäischen Recht und in den EU-Verordnungen umzusetzen ist. Das ist aber natürlich keineswegs zwingend. Man kann eine national andere Entscheidung treffen, als das die EU vorgibt.
"Forschung soll letztendlich eine bessere Situation erzeugen"
Zurheide: Wie bewerten Sie das Ganze jetzt auch vor dem Hintergrund Ihrer Tätigkeit im Ethikrat, zunächst mal aus ethischen Gründen? Ist das zulässig?
Nagel: Die Frage ist natürlich, worum geht es? Es geht natürlich immer auch darum – und das muss man auch der Bundesregierung natürlich unterstellen –, für die Menschen eine bessere Situation zu erzeugen. Forschung soll letztendlich eine bessere Situation erzeugen, und dazu braucht es auch entsprechende Medikamentenversuche in Anführungsstrichen mit Menschen, also klinische Studien, um einen therapeutisch-wissenschaftlichen Fortschritt herauszubekommen. Und das ethische Problem liegt zwischen der Solidarität mit Menschen, die eine ähnliche Erkrankung haben und Forschung, die deshalb stattfindet, um eben diese Menschen langfristig zu schützen, und dem Schutz der Menschen, die an der Forschung teilnehmen, inwieweit sie eben in der Lage sind, in einen solchen Eingriff einzuwilligen. Da hat man immer gesagt, die Selbstbestimmung ist so bedeutsam, dass es ausreicht, wenn die Selbstbestimmung offen da liegt. Dann kann auch davon ausgegangen werden, dass dieser Schutz gewährleistet ist. Wenn ich aber nun nicht mehr in der Lage bin und trotzdem teilnehme, dann ist eben die Frage, ist meine Selbstbestimmung, meine Selbstverantwortung und meine Autonomie immer noch gewährleistet oder opfere ich sie zum Wohle der Menschheit. Das ist natürlich eine schwierige ethische Frage.
Zurheide: Die Kirchen sagen klar Nein. Die Stellungnahme zum Kabinettsbeschluss liegt da. Wie sehen Sie das?
Nagel: Ich denke, man muss tatsächlich noch mal die Problematik darstellen. Wenn wir über dieses Schutzargument sprechen. Es gibt auch einige Gruppen von Alzheimer-Erkrankten, die sagen, Selbstbestimmung ist nicht nur das, was ich rein rechtlich aktuell noch tun kann, sondern Selbstbestimmung bei einer Alzheimer-Erkrankung, die sich ja langsam fortsetzt, ist unter Umständen auch das, was ich vor zehn Jahren einmal gesagt habe. Und insofern kommt der Gesetzentwurf ja auch in die Richtung, dass er sagt, wenn ich in einer Patientenverfügung zum Beispiel einmal eingewilligt habe zum Zeitpunkt noch ganz klaren Denkens, dass ich gruppennützig forschen möchte, also forschen auch zum Nutzen der Patienten mit mir in einem Boot in Anführungsstrichen, und dann der gesetzliche Betreuer auf dieser Basis der Patientenverfügung zustimmt, dann ist das eine Einwilligung. Und hier gibt es tatsächlich eine Grauzone, denn – das ist die Problematik – was passiert denn? Der Patient, der das einmal verfügt hat, kann das natürlich nicht abschätzen.
"Bei der Verhütung der Erkrankung kann man mit einwilligungsfähigen Patienten arbeiten"
Zurheide: Und er kann es vor allen Dingen nicht mehr ändern und artikulieren. Das wissen wir beide, dass das genau leider häufig passiert.
Nagel: So ist es. Er kann es nicht einschätzen und artikulieren. Und er nimmt jetzt teil, und, ganz anders, als er sich das vielleicht einmal vorgestellt hat, macht ihm eine solche Prüfung Angst oder er hat einen konkreten Schaden. Ist der Betreuer dann in der Lage, tatsächlich das zurückzuziehen, kann er einschätzen, wie es dem Patienten geht? Selbst eine Blutabnahme, auch andere, einfach Dinge, die bei einer solchen Studie eine Rolle spielen, können dann belastend sein. Und insofern begibt man sich in eine Grauzone, in die man sich nur begeben sollte, wenn man ganz konkrete Vorteile sich davon versprechen kann. Und da sehe ich eben im Moment so eine Schwierigkeit. Wir sind gerade in der Alzheimerforschung in der Situation, wo viele sehr interessante Forschungsergebnisse im Labor auf dem Tisch liegen. Jetzt muss man den Übergang schaffen im Hinblick auf die Frage der klinischen Studien. Und hier treibt, offensichtlich auch in der Sorge um die Alzheimererkrankung, die Bundesregierung die Vorstellung, wenn wir das nicht tun, dann kommen wir zu spät. Und ich glaube, da kann man durchaus etwas gelassener reagieren, denn es geht natürlich in dieser Forschung, so sehe ich das jedenfalls, unter medizinisch-wissenschaftlichen Gesichtspunkten mehr um die Verhütung der Erkrankung als um die Behandlung der Erkrankung. Bei der Verhütung der Erkrankung kann man mit einwilligungsfähigen Patienten arbeiten.
Zurheide: Es gibt ja noch einen anderen Punkt. Es muss ja ethisch immer – es muss vorgelegt werden, und die Ethikkommission muss bei bestimmten Versuchen sagen, ja, wir machen das. Auch das soll, wenn ich den Gesetzentwurf da richtig lese oder den Kabinettsbeschluss, soll das nur noch eine Rolle spielen, aber keine maßgebliche möglicherweise mehr. Wie sehen Sie das denn, dass das auch noch eingeschränkt wird, also sozusagen von zwei Seiten da die Tür geöffnet wird.
Nagel: Ja, das ist eine Sorge, die sich jetzt deutlich macht, dass man sagt, wenn ihr diesen Gesetzesentwurf so beschließt, dann ist das eigentlich ein Eingang in auch eine Erweiterung. Zum Beispiel bleibt verboten, dass man mit Menschen forscht, die niemals einwilligungsfähig waren, also zum Beispiel von Geburt an keine eigene Entscheidungsfähigkeit hatten. Aber die Sorge, die jetzt artikuliert wird, ist, dass das auch nur noch eine Frage des Momentes ist, und dass man dann bei nächster Gelegenheit auch diese Tür öffnen wird. Und das macht sich fest an dieser Frage, welchen Einfluss haben Ethikkommissionen in der Entscheidung. Ethikkommissionen sind sehr restriktiv. Wir haben sie erst in den letzten 25 Jahren eingeführt zum Schutze der Menschen. Wir wissen, dass es in der medizinischen Forschung in den zurückliegenden 100 Jahren immer katastrophale Entgleisungen gegeben hat, zum Wohle der Menschen, in Anführungsstrichen. Und insofern, glaube ich, ist hier die Schutzsituation relevanter als tatsächlich der Fortschrittsgedanke. Und man muss genau noch einmal abwägen: Ist es auch bei der Alzheimer-Forschung, auch bei der Demenzforschung nicht wichtiger, die Vorstadien zu behandeln, die Forschung in diesem Bereich zu stärken, dort auch mit einwilligungsfähigen Menschen zu arbeiten und doch den Schutz für die nicht Einwilligungsfähigen zu erhalten.
"Man kann nicht vorhersagen, in welche Richtung ein Votum des Ethikrates geht"
Zurheide: Der Ethikrat wird sich entsprechend äußern. Was sagen Sie voraus, und wofür werden Sie sich einsetzen im Ethikrat?
Nagel: Ich glaube, dass man das noch nicht genau voraussagen kann, denn der Ethikrat hat 2012 eine entsprechende Stellungnahme schon einmal abgegeben dahingehend, dass die Selbstbestimmung gerade bei Demenzkranken weiter gefasst werden soll, also ähnlich, wie ich das gerade für einige Patientengruppen schon gesagt haben. Weil natürlich diese Linie Selbstbestimmung auch für Demenzkranke eine schwierige ist. Der Ethikrat hat damals ganz klar formuliert, wir müssen mehr für die Partizipationsmöglichkeit Demenzkranker machen, wir müssen sie mehr selbst entscheiden lassen und mehr darauf Rücksicht nehmen, wie sie auch in einem fortgeschrittenen Erkrankungsstadium ihr eigenes Leben strukturieren können. Insofern, glaube ich, kann man nicht vorhersagen, in welche Richtung auch ein solches Votum geht.
Zurheide: Eckhard Nagel war das, Mediziner und Mitglied des Ethikrates in der Bundesrepublik Deutschland. Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Nagel: Gern!
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