Maiernigg am Wörthersee.
Wer einige Kilometer hinter Klagenfurt beim Strandbad Maiernigg dem Hinweisschild zu Gustav Mahlers Komponierhäuschen folgt, den umhüllt schon nach einigen Minuten eine Art meditativer Abgeschiedenheit und man beginnt, die Weltferne zu ahnen, nach der sich Gustav Mahler gesehnt haben muss. Im Wald über dem Wörthersee erwartete ihn ungestörte Ruhe und vor allem Menschenleere.
Mahler ließ hier im Sommerurlaub den unmenschlichen Druck antisemitischer Ressentiments, Intrigen und Klatsch aller Art, sowie die immensen künstlerischen und administrativen Arbeitsanforderungen als Dirigent und Intendant des Wiener Hof-Operntheaters hinter sich. Wenn er in den Theaterferien dem kulturellen Tumult der k. u. k. Metropole für einige Wochen und Monate den Rücken kehrte, wechselte er gleichsam seine Existenzweise: Von dem im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Herrn Director zu einem stille- und einsamkeitssuchenden Komponisten und rückzugsbedürftigen Privatmenschen.
Mahler ließ er sich ein neues Refugium am Wörthersee errichten
Hier im Wald durfte ihn ohne Einladung niemand aufsuchen. Hier fand er die Schaffensbedingungen, die er für seine künstlerische Arbeit benötigte.
"Atmosphäre, die Ruhe und die Natur, Entfliehen aus dem Alltag, das In-sich-kehren, während der Spielzeit im Hofoperntheater war es Gustav Mahler nicht möglich, das zu tun, in der theaterfreien Zeit hat er sich hier zurückgezogen, die Stille genossen und seinen Kreativität freien Lauf gelassen. Nach einem Pächterwechsel am Attersee konnte er dort nicht mehr bleiben, daher bat er seine Schwester und seine Freundin Natalie hier am Wörthersee eine neue Bleibe für ihn zu finden." (Elena Stoißer vom Kulturamt Klagenfurt)
Mahlers früheres Häuschen in Steinbach am Attersee hatte sich als Komponierwerkstatt bewährt und so ließ er sich ein neues Refugium am Wörthersee errichten: zunächst ein kleines Häuschen im Wald für den kreativen Rückzug, dann die Sommervilla unten am Ufer für Familie und Freunde.
Während der Bauzeit der Villa schrieb die Violinistin und langjährige Freundin Natalie Bauer-Lechner in ihren Erinnerungen: "Mahler klagte auch heuer wieder, wie schwer es sei, nach der langen Pause den gewaltsam aufgehaltenen Quell des Schaffens zum Sprudeln zu bringen. Gleichwohl waren nicht drei Tage vergangen, als er, obschon er geplant hatte, sich vorerst zwei Wochen Erholung zu gönnen, schon in seinem Häuschen lange saß und - trotz allem noch störenden Gehämmer im Hause unten - mitten ins Komponieren getaucht war."
Der Gehweg zum Komponierhäuschen windet sich in einem gemäßigten Auf und Ab durch den Wald, durchquert heideartige, wilde Lichtungen mit umgekippten, vermodernden Baumstämmen oder zieht sich unter hohen Baumwipfeln hinweg, die sich tunnelartig über einem schließen. Entlang gewundener Pfade durch einen von Föhren und immergrünen Nadelbäumen durchmischten Erlen- und Buchenwald geht es vorbei an der Ruine einer ehemaligen Sternwarte, Baumstammtreppen hoch und hinweg über bizarre Wurzelwege. Hat man die kleine Brücke über einem steilen Garben überquert, sieht man schon bald Dach und Umrisse eines kleinen Gebäudes durch die Bäume schimmern.
"Komponierhäuschen, eigentlich nur ein gezimmerter Raum von etwa 20 qm. In dem Häuschen befand sich eigentlich nur ein Arbeitstisch, ein Flügel und ein Regal mit den Gesamtausgaben von Kant und Goethe, Ofen zum Erwärmen des Kaffees. Leider ist heute nichts mehr von der Einrichtung erhalten."
In den 90er-Jahren wurde in dem zwar renovierten, aber spartanischen Komponierhäuschen ein Museum eingerichtet, das immerhin noch die filigranen Original-Fenster mit den dezenten Messing-Jugendstil-Beschlägen enthält. Erstaunlich, nachdem das Gebäude lange Zeit Waldarbeitern als Holzlager diente.
Elena Stoißer vom Kulturamt Klagenfurt betreut das kleine Museum inmitten der Bäume. Ausgestellt sind - neben einer Büste Gustav Mahlers - Partituren, Briefe, Postkarten und Fotografien sowie weitere Gegenstände aus seinem Nachlass. Schautafeln geben Aufschluss zum Beispiel über Gustav Mahlers Jahre in Kärnten oder über sein Verhältnis zu Sigmund Freud, dessen Anfänge der Psychoanalyse mit der "Traumdeutung" in jener Zeit die bürgerliche Welt zu beunruhigen begann. An warmen Tagen steht die Tür des Komponierhäuschens offen und den Besuchern tönen die Lieder und Symphonien Gustav Mahlers entgegen, wenn sie nach dem viertelstündigen Fußweg - im Frühling und Sommer unter Vogelgezwitscher und im Herbst durch den gefärbten Laubwald - dort ankommen.
In Maiernigg komponierte Mahler auch Klavier- und Orchesterlieder
Mahler ging seinerzeit einen kürzeren, aber sehr viel steileren Weg, direkt hinter seiner Villa, hoch zu seinem Häuschen. Offenbar war er gut in Form. Sein künstlerischer Mitarbeiter Alfred Roller schrieb über Mahlers bemerkenswerte Fitness:
"Im Eilschritt aber, in dem sich die weiten Spaziergänge vollzogen, trug er den Oberkörper leicht vorgeneigt, das Kinn vorgestreckt und trat fest, fast stampfend, auf. Diese Gangart hatte etwas Stürmisches, etwas ausgesprochen Triumphales. Zu schlendern vermochte Mahler überhaupt nicht. Sein Körper hatte immer Haltung, wenn auch nicht immer die konventionelle. Bergan stieg er viel zu rasch. Ich vermochte ihm kaum zu folgen. Sein Bad begann gewöhnlich mit einem mächtigen Kopfsprung. Dann schwamm er lange unter dem Wasser und weit draußen im See kam er erst wieder zum Vorschein, sich behaglich im Wasser wälzend wie eine Robbe. Mit Mahler gemeinsam zu rudern war kein Vergnügen. Er hatte einen kräftigen Streich und einen viel zu schnellen Schlag."
"Muntermacher: Köpfler in den Wörthersee, dann war nur die Arbeit wichtig. Bis zum Mittag hat an den Symphonien und Liedern gearbeitet, dann Mittagessen mit Familie, nachmittags Spaziergang Aktivitäten. Begleitung: Familie, bestand aus Alma und den beiden Kindern."
Gustav Maher verbrachte die Sommer der Jahre 1900 bis 1907 in seinem Komponierhäuschen im Wald von Maiernigg. In dieser mittleren Schaffensphase vollendete er seine 4. Symphonie, die als Abschied von der himmlisch-paradiesischen Welt und als Eintritt in die irdische Welt gedeutet wird. Darauf folgten die Symphonien 5 bis 8 mit dem grandiosen Spektrum einer Schaffensperiode, die im Zeichen der Kämpfe und Auseinandersetzungen des Lebens steht. Nach den Symphonien 5, 6 und 7, die rein symphonisch und ohne Textpassagen komponiert sind, kam er in der darauf folgenden Achten wieder zum Text zurück. Mahler verwob in dieser Vokal-Symphonie zwei inhaltlich gegensätzliche Motive miteinander: den oratorischen Pfingsthymnus "Veni creator spiritus / Komm, Schöpfer Geist" und die Vertonung der Schlussszene aus Goethes Faust II. Das monumental besetzte Werk variiert mit chorsymphonischer Wucht das große Thema Mahlers: die Erlösung des Menschen durch die Kraft der Liebe als Ausdruck höchsten Seins. Der auch für Mahlersche Verhältnisse unvergleichlich große Aufführungsaufwand - ein riesiges Orchester mit Orgel, mehrere Chöre und Solisten werden benötigt - brachte der Achten gleich nach der Uraufführung den Beinamen "Sinfonie der 1.000" ein. Sie gilt als Höhepunkt im Schaffen von Gustav Mahler. Auch er selbst bezeichnete sie als sein wichtigstes Werk.
Der Musiktheoretiker und Philosoph der Negativität Theodor W. Adorno hat sich höchst despektierlich über Mahlers Musik ausgelassen, insbesondere über seine sogenannten "affirmativen" Passagen. Auch wenn man sich Adornos Werturteil nicht anschließen will, so ist es das von ihm zutreffend charakterisierte Moment der "Gebrochenheit", das den spezifischen Mahler-Sound ausmacht und die Hörerschaft nach wie vor fasziniert.
In den Maiernigger Jahren komponierte Gustav Mahler zwischen seinen Symphonien auch einen großen Teil seiner thematischen Klavier- und Orchester-Lieder, die als Bindeglied zwischen den symphonischen und den choralen Werken gelten.
Das Jahr 1907 war ein Unglücksjahr
Gustav Mahler irritierte die Hörer seiner Musik, indem er in seine Kompositionen nicht nur stilisierte Nachahmungen von Naturlauten integrierte, sondern auch musikalische Zitate aus dem Bereich der Vulgärmusik, aus Ländlern, Schlagern oder Volksliedern verarbeitete; auch vor Trivialem scheute er nicht zurück, wie Drehorgelhaftes, ein Posthorn oder der Hammer. Nicht nur die kompositorische Literatur der vergangenen 150 Jahre, die er dirigierte, gehörte zu seinem musikalischen Kontext, auch Alltagstöne von Außen waren ihm Inspiration, essenzieller Bestandteil seiner Produktion. Natalie Bauer-Lechner schreibt in ihren Erinnerungen zu Gustav Mahler unter dem Stickwort "Polyfonie", wie Mahler auf Geräusche aller Art zu reagieren pflegte, wenn sie ihn nicht gerade beim Komponieren störten. Sie erzählt von einem gemeinsamen Sonntagsspaziergang auf dem Waldweg nach Klagenfurt, wo, wie sie schreibt, bei einem Kirmes-Fest ein wahrer Hexensabbat los war, da sich dort neben Ringelspielen, Schaukeln und Kasperltheatern auch Militärmusik und ein Männergesangverein etabliert hatten, die alle auf derselben Waldwiese ohne Rücksicht aufeinander ein unglaubliches Musizieren vollführten und da rief Mahler:
"Hört ihr's! Das ist Polyfonie und da hab ich sie her! - Schon in der ersten Kindheit im Iglauer Wald hat mich das so eigen bewegt und sich mir eingeprägt. Denn es ist gleich viel, ob es in solchem Lärm oder im tausendfältigen Vogelgesang, im Heulen des Sturmes, im Plätschern der Wellen oder im Knistern des Feuers ertönt. Gerade so, von ganz verschiedenen Seiten her, müssen die Themen kommen und so völlig unterschieden sein in Rhythmik und Melodik - alles andere ist bloß Vielstimmigkeit und verkappte Homofonie - nur dass sie der Künstler zu einem zusammenstimmenden und -klingenden Ganzen ordnet und vereint."
Auch in einem Brief an seine Frau Alma, wird deutlich, wie sehr ihn eine Bootsfahrt nach wochenlang quälend stockenden Überlegungen für seine 7. Symphonie inspirierte:
"In Krumpendorf erwartetest Du mich nicht, weil ich meine Ankunft nicht angezeigt. Ich stieg in das Boot, um mich hinüberfahren zu lassen. Beim ersten Ruderschlag fiel mir das Thema (oder mehr der Rhythmus und die Art) der Einleitung zum 1. Satz ein - und in 4 Wochen war 1., 3. und 5. Satz fix und fertig!"
Das Jahr 1907 war das Unglücksjahr Gustav Mahlers. Der Druck in der Hof-Oper nahm unerträgliche Dimensionen an. Die sich zuspitzenden antisemitischen Anfeindungen, die sich auch gegen Mahler als Komponisten richteten, wurden von einer massiven Pressekampagne getragen und zwangen ihn schließlich, von seinem Amt als Dirigent und Intendant zurückzutreten. In den darauffolgenden Sommerferien starb seine kleine Tochter Maria im Alter von vier Jahren, was dazu führte, dass Gustav Mahler die Villa am Wörthersee und das Komponierhäuschen im Wald für immer verließ. In dieser Zeit bekam er selbst eine schwerwiegende Krankheitsdiagnose. Was ihn jedoch nicht hinderte, den zuvor geschlossenen Vertrag als Chefdirigent mit der Metropolitan Opera in New York anzutreten, wo man ihm einen herzlichen Empfang bereitete und ihn sowohl als Dirigenten als auch als Komponisten wertschätzte. Zwischen seinen Engagements kehrte er immer wieder zurück. In seinem dritten und letzten Komponierhäuschen in Toblach in Südtirol komponierte er sein Spätwerk.
Der Film "Tod in Venedig" löst einen Mahler-Hype aus
1911 stirbt Gustav Mahler erst 50-jährig in Wien; das Penicillin war noch nicht entdeckt.
Führt man sich vor Augen, welche Entfernungen Gustav Mahler zu seiner Zeit zurückgelegt hat, kann man sich nur wundern. Schon während seiner Jahre als erster Kapellmeister in Hamburg, dirigierte er in London und Berlin, und in den Ferien fuhr er zu seiner Hütte am Attersee quer durch Europa. Zur Genesung nach einer Operation und später - zwecks Fertigstellung seiner 4. Symphonie - reiste er nach Opatija, dem mondänen, mediterranen Kurort der k. u. k. Monarchie an der istrischen Riviera. Die Südbahnstrecke machte es möglich. Auch während seiner Wiener Zeit reiste Mahler weite Strecken, um unter anderem in Paris, St. Petersburg, Amsterdam zu dirigieren und eigene Werke aufzuführen. Auch die Strecke von Wien zu seinem Sommersitz am Wörthersee überwand Mahler mit der Eisenbahn. Entweder fuhr er bis Klagenfurt und von da aus mit dem Wagen weiter nach Maiernigg oder er stieg in Krumpendorf aus, wo er sich vom Schiffsanleger auf die andere Seite des Sees übersetzen ließ.
Frau Stoißer, die freundliche Muse und Betreuerin des Gustav-Mahler-Häuschens erzählt, dass der weltberühmte Dirigent und Komponist Leonard Bernstein dem Komponierhäuschen kurz vor seinem Tod einen Besuch abgestattet hat. Das ist mehr als name-dropping, denn es war Leonard Bernstein, der Anfang der 60er-Jahre die Musik Gustav Mahlers, die Jahrzehnte lang aus den Veranstaltungs-Programmen europäischer Konzerthäuser verbannt war, dem Vergessen entrissen hat. Seinem und Rafael Kubeliks Engagement haben wir die Wiederentdeckung und Neubewertung Gustav Mahlers zu verdanken. Mit ihren - unabhängig voneinander entstandenen - Stereo-Gesamteinspielungen auf Schallplatten von Mahlers Symphonien legten sie den medialen Grundstein für eine Gustav-Mahler-Renaissance. Dazu trug auch die Rezeption von Theodor W. Adornos Mahler-Monografie bei. Zehn Jahre später ereignete sich ein weiteres mediales Ereignis, das Mahlers Musik auch einem breiteren Publikum nahebrachte. Luchino Viscontis hochemotionale Verfilmung von Thomas Manns Novelle "Tod in Venedig" war mit Partien aus Gustav Mahlers 5. Symphonie unterlegt und löste geradezu einen Mahler-Hype aus. Viscontis Film versammelte Anfang der 70er-Jahre zahlreiche Auszeichnungen auf sich, nicht zuletzt für die Tonspur.
Gustav Mahlers Popularität hält unvermindert an. Musikhistorisch zählt er zu den Wegbereitern der Neuen Musik und als Übergang zu der Avantgarde des 20. Jahrhunderts. Der Wahrheitsanspruch seiner Musik und die mitreißende klangliche Ausdrucksfähigkeit tragen maßgeblich zu seiner Verehrung bei.
Gerade noch war Sommer, jetzt ist Herbst. Ende Oktober schloss das Komponierhäuschen. Im Frühjahr wird sich die Tür wieder öffnen und die schwierige, komplexe, wunderbare Musik Gustav Mahlers wird wieder durch den Wald von Maiernigg tönen ...