Dass unsere nächsten lebenden Verwandten, die Schimpansen und Bonobos, die Blätter oder das Mark bestimmter Pflanzen gegen Darmparasiten verzehren, ist schon länger bekannt. Auch bei anderen Tierarten wurde schon Selbstmedikation beobachtet. Im Fachmagazin „Current Biology“ berichtet ein Forschungsteam jetzt aber erstmals von einer Schimpansen-Gruppe im Loango-Nationalpark in Gabun, deren Mitglieder Insekten auf offene Wunden aufbringen.
Bei der Bewertung des möglichen therapeutischen Effekt dieses Handelns seien die Forschenden noch zurückhaltend, sagte Simone Pika, Professorin für Vergleichende Kognitionsbiologie an der Universität Osnabrück, im Dlf. Am spannendsten sei vielleicht der Aspekt, dass Tiere nicht nur sich selbst, sondern auch andere mit den Insekten behandeln. Dabei handele es sich vermutlich um sozial erlernte Verhaltensweisen.
Das Interview in voller Länge:
Lennart Pyritz: Was genau haben die Schimpansen gemacht?
Simone Pika: Wir haben das erste Mal beobachtet, dass Schimpansen Insekten fangen und dass sie dann diese Insekten in den Mund stecken, wahrscheinlich erst mal, um sie zu immobilisieren oder um auch etwas aus ihnen herauszudrücken. Und dann nehmen sie diese Insekten aus dem Mund und tragen sie auf ihren eigenen Wunden auf. Aber sie tragen sie auch auf Wunden von anderen Schimpansen auf.
22 Fälle der Wundbehandlung mit Insekten wurden dokumentiert
In dieser Studie haben wir über einen Zeitraum von 15 Monaten gefunden, dass in unserer Gruppe 76 offene Wunden waren bei 22 verschiedenen Schimpansen. Und hier wurde dann beobachtet, dass in 19 Fällen Insekten gefangen wurden und in eigene Wunden eingetragen wurden. Und wir haben drei Beobachtungen, wo Tiere Insekten gefangen haben und dann in die Wunden von anderen Tieren aufgetragen haben.
Pyritz: Welche therapeutische Wirkung könnten diese zerquetschten Insekten haben?
Pika: Wir halten uns da noch ein bisschen mit zurück, mit der therapeutischen Wirkung. Es könnte natürlich sein, das ist einfach ein Placeboeffekt. Das ist so, wie wenn ein Kind hinfällt und es ist gar nicht viel passiert. Aber plötzlich kommt die Mama, sagt, tut dir das weh, und alles ist wunderbar. Man kriegt diese Aufmerksamkeit, und dadurch geht’s einem schon besser. Aber wir haben ja gefunden, dass in 19 Fällen die Insekten in die eigene Wunde aufgetragen werden. Von daher nehmen wir an, entweder ist in dem Insekt etwas, das direkt sofort zur Schmerzlinderung führt, wenn es aufgetragen wird, oder dass die Insekten Substanzen haben, die zum Beispiel gegen die Entzündung wirken, also entzündungshemmend sind.
Pyritz: Wie interpretieren Sie die Tatsache, dass die Schimpansen nicht nur sich selbst, sondern in immerhin drei Fällen auch Artgenossen auf diese Weise versorgt haben?
Pika: Für mich ist das im Grunde der spannendste Aspekt bei dieser Studie. Zum Beispiel haben wir ein Weibchen, das fängt ein Insekt, gibt dann dieses Insekt an das Männchen mit der Wunde, der trägt es auf. Dann haben wir aber auch andere Tiere, die das Insekt noch mal aus der Wunde nehmen und noch mal in diese Wunde auftragen.
Die Schimpansen handeln prosozial - vermutlich weil sie es so gelernt haben
So ein Verhalten nennt man prosoziales Verhalten. Das heißt: Das Tier tut etwas, um das Wohlergehen eines anderen zu fördern.
Pyritz: Könnte es bei dieser geringen Stichprobe nicht auch andere Erklärungen geben?
Pika: Es kann noch andere Erklärungen geben, das stimmt. Das heißt, wir müssen weiter dranbleiben. Aber wir haben ja nicht nur drei Beobachtungen in einem einzelnen Tier, sondern wir haben drei Beobachtungen, wo vier verschiedene Tiere dieses Verhalten machen. Und das sind auch nicht immer nur Tiere, die dann mit dem Tier verwandt sind, wo das Insekt aufgetragen wird, sondern das sind nicht verwandte Tiere, vielleicht Tiere, die enge Sozialbeziehungen haben. Und jetzt muss man natürlich weiter untersuchen: Wer trägt ein Insekt bei einem anderen Tier auf? Aber vielleicht auch andersrum: Wer lässt es zu, dass in eine schmerzende offene Wunde ein Insekt von einem anderen Tier aufgetragen werden kann?
Pyritz: Es war zuvor schon bekannt, dass Schimpansen sich selbst mithilfe von Pflanzen verarzten. Wie gut ist das inzwischen erforscht?
Pika: Das ist sehr gut erforscht, vor allen Dingen an den bekannten Schimpansen-Populationen in Gombe und Mahala in Tansania oder auch in Uganda. Hier handelt es sich aber um ein anderes Phänomen. Und zwar verarzten die Schimpansen zum einen sich selber und nicht andere Schimpansen, und zum anderen fressen sie hier Blätter oder schlucken Blätter ganz oder kauen auf Mark herum. Und in diesen Pflanzen gibt es zum einen Substanzen, die dazu beitragen, dass zum Beispiel Bauchschmerzen weggehen. Aber zum anderen sind das auch Pflanzen, die eine sehr raue Oberfläche haben und dann diese Darmparasiten aus dem Tier sozusagen herausbringen.
Pyritz: Auch andere Tiere zeigen solche Verhaltensweisen – Elefanten, Bären, bestimmte Insekten oder Vogelarten, die sich Ameisen ins Gefieder reiben gegen Läuse und Milben. Könnte diese Selbstmedikation bei den Menschenaffen eine besondere Qualität haben?
Pika: Ich würde sagen, die Fälle bei den Insekten, da kann man klar davon ausgehen, dass die angeboren sind, also genetisch bedingt. Aber von Schimpansen wissen wir, dass sie durch soziales Lernen bestimmte Verhaltensweisen sich von anderen abschauen. Es gibt ganz viele Beispiele für kulturelles Verhalten bei Schimpansen, zum Beispiel Nüsse knacken oder auch, wie man Termiten auf besondere Arten aus den Stöcken herausholt. Und was wir bei uns finden, ist, dass eine Insektenapplikation ein ungeheures großes Interesse erzeugt. Das heißt: Wir haben sofort andere Tiere, die kommen, gucken sich das Verhalten an, die wollen wissen, was hier abgeht. Deswegen gehen wir momentan davon aus, dass das sozial erlernt wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.