Archiv

Medizin-Historiker zur Corona-Pandemie
"Jede Seuche ist ein großer Stresstest für eine Gesellschaft"

Seuchen hätten in der Gesellschaft immer tiefe Spuren hinterlassen, sagte der Medizin-Historiker Karl-Heinz Leven im Dlf. Soziale Bande seien zerbrochen, aber auch Zusammenhalt entstanden. Letztlich könnten Katastrophen wie die Corona-Krise auch Innovationsprozesse in Gang setzen, so Leven.

Karl-Heinz Leven im Gespräch mit Stefan Heinlein |
Children wearing masks are seen in Sanaa, Yemen, March 15, 2020. YEMEN-SANAA-COVID-19 nieyunpeng
Die Menschheit musste sich in ihrer Geschichte immer wieder mit Seuchen auseinandersetzen. In Europa gab es im Rückblick meist die Bereitschaft gegen die Seuche zu kämpfen, sagt der Medizin-Historiker Karl-Heinz Leven (imago / Xinhua )
Die Corona-Krise sorgt für große Verunsicherung in unserer Gesellschaft. Hamsterkäufe, Existenzangst - und Angst um Freunde und Angehörige. Außerdem kursieren Falschmeldungen und Verschwörungstheorien über die Entstehung der Corona-Pandemie.
Der Medinzinhistoriker Karl-Heinz Leven von der Universität Erlangen-Nürnberg erklärte im Dlf, dass solche Verschwörungsgedanken typisch für Krisenzeiten sind.
Dossier - Was man zum Coronavirus wissen muss
Wie gefährlich ist das Virus? Welche Rechte haben Verbraucher und Arbeitnehmer? Und welche Folgen hat das Virus für die Wirtschaft? Wir klären die relevanten Fragen.
Ob in der griechischen Antike oder im Mittelalter, sei das eine Reaktionsform von Gesellschaften auf Krisen gewesen, so Leven. Die müsse man bekämpfen, aber auch hinnehmen. Er machte klar, dass Seuchen immer eine große Herausforderung für eine Gesellschaft seien - und zwar auf allen Gebieten: von der Politik über die Medizin bis hin zur Solidarität unter den Menschen.

Stefan Heinlein: Ihr Fachgebiet als Medizinhistoriker ist die Seuchengeschichte. Hilft der Blick in die Geschichtsbücher weiter bei der Betrachtung der aktuellen Corona-Pandemie?
Karl-Heinz Leven: Zumindest kann man feststellen, dass Seuchen der historische Normalzustand sind. Wir können im Laufe der Geschichte eine Vielzahl von solchen Zügen, von Seuchenausbrüchen nachweisen.
"Parallelen in den Reaktionsweisen der Gesellschaften"
Heinlein: Was können wir aus der Vergangenheit aus der Seuchengeschichte lernen für die aktuelle Situation?
Leven: Seuchen erfordern immer die Gesellschaften in mehrfacher Hinsicht heraus: Medizinisch, medizinisch-wissenschaftlich, politisch, was das Handeln angeht, aber auch im gesellschaftlichen Gefüge. Da gibt es dann erstaunliche Parallelen in den Reaktionsweisen der Gesellschaften, die man als anthropologische Konstanten bezeichnen könnte. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede.
Heinlein: Waren die Gesellschaften in der Geschichte, in der Vergangenheit diesen Herausforderungen durch die Seuchen gewachsen?
Leven: Gesellschaften können sich ja nicht aussuchen, ob sie von einer Seuche heimgesucht werden, denn das sind oft zufällige, man spricht in der Geschichte von kontingenten Ereignissen. Das gilt für den gewaltigen schwarzen Tod im 14. Jahrhundert, für die Cholera im 19. Jahrhundert. Gesellschaften können sich das nicht aussuchen, aber sie müssen damit fertig werden, und wir sehen doch immer, dass verschiedene Gesellschaften doch diese Krisen auch überstanden haben.
Handlungszuversicht gegen die Seuche
Heinlein: Welche Fehler, Herr Professor, sollten Politiker und Verantwortliche, welche historischen Fehler sollten sie derzeit nicht machen?
Leven: Wenn wir uns fragen, was die Geschichte überhaupt lehrt, dann muss man vorab sagen: Sie lehrt uns nicht, wie wir handeln sollen, das auf keinen Fall, sondern sie zeigt eine Art Erfahrungsschatz. Sie zeigt Möglichkeiten und Grenzen des Handelns. Und um das ganz wichtig voranzustellen: Wir sehen in der Reaktionsform europäischer Gesellschaften historisch eine Art von Handlungszuversicht, eine Bereitschaft, auch die Möglichkeit, die Tatkraft, gegen die Seuche zu handeln. Das ist ein Motiv, das wir immer wieder finden und das wir in den verschiedenen Epochen, in der Antike, im Mittelalter, in der frühen Neuzeit verschieden ausgeprägt sehen. Aber wir haben heute – und das ist der historische Unterschied zur Vormoderne, ganz allgemein gesprochen – ein gewaltiges Arsenal von Möglichkeiten, das es früher nicht gab.
"Eine Flut von Unfug"
Heinlein: Heute leben wir tatsächlich, Herr Professor, in einer digitalisierten Welt. Nachrichten, Informationen gehen im Sekundentakt durchs Netz, durchs Internet. Ist das Fluch und Segen zugleich für den Verlauf einer Seuche, für die Bekämpfung einer Pandemie?
Leven: Ich bin ein Anhänger der traditionellen Medien - das möchte ich betonen -, Fernsehen, Radio und andere seriöse Berichterstattung ist ausgesprochen wichtig. Wir beobachten aber auch – und das wird vielfach auch zu Recht moniert – eine Flut von Unfug, von sogenannten Fake News, die die Leute auch verunsichern können. Hier kommt es auf guten Journalismus an.
Großaufnahme einer Frau mit Schutzmaske, die aus einem Fenster schaut.
Coronavirus - Fiebrige Mythen verbreiten sich
Viel schneller als das Virus selbst verbreiten sich Verschwörungsmythen über SARS-CoV-2. Denn in Krisenzeiten seien Menschen besonders anfällig für Irrationalität, sagt der Religionswissenschaftler Michael Blume.
Leven: Verschwörungstheorien muss man auch aushalten
Heinlein: In der Vergangenheit gab es bei Seuchen, etwa bei der Pest, immer Volksgruppen oder Religionen, die dafür verantwortlich gemacht wurden. Ist das in unserer digitalisierten Welt eine wachsende Gefahr? Es gibt ja schon Verschwörungstheorien. Oder ist der moderne Mensch jetzt eher dagegen immun?
Leven: Wenn ich eben sagte, es gibt erstaunliche Konstanten und anthropologische Konstanten in der Reaktionsform von Gesellschaften, so bezieht sich das auch (man kann sagen leider) auf die Verschwörungsgedanken. Wir finden seit der frühesten Zeit, seit dem Beginn der Geschichtsschreibung in der griechischen Antike erhebliche Verschwörungsgedanken, die dann etwa auch im Mittelalter während des großen Sterbens in der Pest, dem schwarzen Tod, dazu geführt haben, dass etwa die Judengemeinden in der Schweiz und in Deutschland insbesondere ausgerottet wurden unter dem Vorwurf der Brunnenvergiftung durch die Juden. Wir haben heute eine, wenn man so will, zeitgemäße Abwandlung dieser Verschwörungstheorien, wenn etwa behauptet wird, in China inzwischen, dass dieses Virus zwar in China zunächst ausgebrochen sei, aber wahrscheinlich (solche Stimmen gibt es sogar auf regierungsamtlicher Ebene; die werden zumindest nicht unterdrückt) aus Amerika stamme. Sie sehen, auch das ist eine Spielart dieses Verschwörungsgedankens, den man bekämpfen muss, den man aber auch in gewisser Weise aushalten muss, weil er offensichtlich zum typischen Repertoire der Seuchenwahrnehmung gehört.
Heinlein: Gerade in solchen Krisenzeiten einer Pandemie ist eine Gesellschaft, auch eine Weltgesellschaft anfällig für Gerüchte und Verschwörungstheorien?
Leven: Absolut!
"Nach der Corona-Krise werden wir mehr über Viruserkrankungen wissen"
Heinlein: Wenn Sie die Geschichte der Seuchen betrachten, wie verändert das letztendlich Gesellschaften? Welchen Einfluss hat das auf die Menschen und ihr Verhältnis zueinander?
Leven: Wenn wir noch mal auf die Handlungsfelder Medizin, Politik und Gesellschaft zurückkommen, so können wir davon ausgehen – und so war es auch in der historischen Dimension -, dass sich hier etwas verändern wird. Wir werden zum Beispiel sagen, etwa die Auseinandersetzung mit einem viralen Erreger, mit dem wir es heute zu tun haben, wird der Virologie einen mächtigen Impuls geben. Wir werden so viel mehr wissen über Virenerkrankungen nach dieser Corona-Krise und man wird sie überstehen - davon muss man überzeugt sein -, dass wir dann auch im Hinblick auf künftige Bedrohungen dieser Art besser gewappnet sein werden. Das hat man übrigens auch nach der Spanischen Grippe, die ja so verheerend eingeschlagen hat vor über 100 Jahren, am Ende des Ersten Weltkrieges. Man hat da auch im Zuge, wenn man so will, der Aufarbeitung, der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Katastrophe zum Beispiel erste Bestrebungen ergriffen, um eine Grippeschutzimpfung einzuführen, die dann in den 40er-Jahren erstmals auch durchgeführt wurde. Man kann damit rechnen, dass solche Katastrophen, solche Krisen, so schlimm sie dann auch jeweils einschlagen, auch Innovationsprozesse in Gang setzen.
Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher.
Ökonom Fratzscher: "Je länger es dauert, desto mehr Insolvenzen wird es geben"
In der aktuellen Krise um das Coronavirus sei der kritische Faktor für die Wirtschaft Zeit, sagte der Ökonom Marcel Fratzscher im Dlf. Einige Firmen könnten vielleicht bis zu sechs Wochen ohne Einnahmen stemmen.
"Es gibt Zerfall von sozialen Banden, aber auch Solidarität"
Heinlein: Neben diesen medizinischen, neben diesen virologischen Aspekten, Herr Professor Leven, kehrt eine Seuche, eine Pandemie zugleich das Gute und das Böse einer Gesellschaft an die Oberfläche? Oder besteht die Gefahr von Zivilisationsbrüchen durch eine solche Pandemie?
Leven: Eine Seuche diesen Ausmaßes, die uns jetzt auch offenbar bevorsteht, hat es wie gesagt schon oft gegeben und sie hat immer auch in der Gesellschaft tiefe Spuren im unmittelbaren Erleben hinterlassen. Das heißt, etwa der Zerfall von sozialen, auch von Familienbanden wurde berichtet. Es gibt Fluchtbewegungen, historisch jetzt betrachtet. So können wir immer davon ausgehen, dass jede Seuche ein großer Stresstest für eine Gesellschaft ist. Aber wir haben gleichzeitig auch, historisch betrachtet, immer Solidarität, Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt, und wir sehen ja auch heute – und da muss man erwähnen unser Medizinpersonal, Ärztinnen und Ärzte, die Krankenpfleger, die Krankenschwestern, aber auch die Apothekerinnen und Apotheker -, die die Hauptlinie, die Hauptverteidigungslinie bilden. Das ist auch ein Zeichen, eine Art Vorbild für die gesamte Gesellschaft.
Leven: Die Corona-Pandemie ist keine Zeitenwende
Heinlein: Aber man kann in jedem Fall festhalten: Diese Corona-Pandemie ist eine historische Zeitenwende für unsere Welt?
Leven: Als Historiker fällt es einem immer schwer, in die Zukunft zu blicken. Das ist nicht gerade die Stärke der Historiker. Aber ich möchte hier das Wort Zeitenwende ein bisschen relativieren. Ich würde hier eher einen Markstein sehen. Das ist ein gewaltiges Experiment, auf das wir uns gerade vorbereiten. Es gibt viel Handlungszuversicht, aber die Folgen können wir nicht abschätzen. Das heißt, es wird Überraschungen geben, auch negative Überraschungen. Es ist auf jeden Fall ein Markstein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.