"Hallo Frau Bäuerlein, schönen guten Tag." - "Guten Tag! Ich darf Sie bitten, wir haben hier einen Sessel, dann können Sie hier ganz entspannt liegen. Ist das so okay?" – "Das ist in Ordnung so, vielen Dank!"
Anna Bäuerlein ist etwas aufgeregt. Sie bekommt gleich winzige Mengen des Nervengiftes Botulinumtoxin gespritzt – und zwar an 31 Punkten im Gesicht, Nacken- und Schulterbereich. Denn die 27-Jährige leidet an chronischer Migräne. Professor Hartmut Göbel, Leiter der Schmerzklinik Kiel, untersucht vorher ihre Kopfschmerzempfindlichkeit. Dafür tastet er verschiedene Muskelgruppen am Kopf und Nacken ab.
"Ja, und da sehe ich auch hier zum Beispiel diese ausgeprägten Triggerpunkte, die dann entstehen, wenn man sehr häufig Kopfschmerzen hat und der Muskel sich reflektorisch zusammenzieht. Und das unterhält sich dann wie so ein Feedback-Kreis."
Die angespannten Muskeln führen wiederum zu Kopfschmerzen. Und jeder Schmerz steigert die Empfindlichkeit des Nervensystems. Das Botulinumtoxin kann diesen Kreis unterbrechen: Es blockiert die Freisetzung von bestimmten Botenstoffen an den Nerven. So zieht sich der Muskel nicht bei jeder Kleinigkeit zusammen, die Schmerzempfindlichkeit nimmt nicht weiter zu.
"Das Gehirn kann sich im wahrsten Sinne des Wortes entspannen, es kommt zu einer Desensitivierung: Die Empfindlichkeit wird geringer und die Häufigkeit von Attacken kann damit absinken. Es ist allerdings nicht so, dass ich jetzt damit einfach die Migräne behandeln kann und alles andere vergessen kann. Ich muss natürlich weiter die wichtigen Dinge umsetzen."
Botox ist also kein Allheilmittel – im Durchschnitt kann es zwei Krankheitstage im Monat verhindern. Außerdem wirkt es nicht bei allen Patienten gleich.
"Es gibt Patienten, die brauchen zwei, dreimal diesen Behandlungszyklus und dann stabilisiert sich das so gut, dass es dann gut bleibt. Es gibt aber auch Patienten, die haben derartig aggressive Verläufe, dass man tatsächlich im Takt von drei, vier Monaten feste Behandlungszyklen braucht."
Und bei einigen wirkt es auch gar nicht. Denn Migräne ist eine komplexe Erkrankung. Das Gehirn der Patienten ist besonders aktiv. Deshalb sollten Betroffene Stresssituationen vermeiden, Entspannungsübungen in den Alltag einbauen und regelmäßig Sport treiben. Ein strukturierter Tagesablauf schützt das Gehirn vor Überlastung, so Göbel:
"Bei der Migräne an sich ist nichts kaputt am Gehirn. Da ist nichts in dem Sinne gestört, dass da ein Defekt ist. Das Gehirn arbeitet aber besonders schnell. Und ein aktives Nervensystem braucht jetzt sehr viel Energie. Und dann kommt es immer wieder vor, dass die Energievorräte an den Nervenzellen nicht ausreichen. Und dann kommt es zu einer Freisetzung von Entzündungsstoffen, die dann diese Entzündungen produzieren, die diesen pochenden hämmernden Kopfschmerz machen."
Diesen Schmerz kennt auch Anna Bäuerlein nur zu gut. Jede Bewegung verstärkt den Schmerz, oft ist er begleitet von Übelkeit und Erbrechen.
"Also wenn ich die Möglichkeit habe, ziehe ich mich zurück, also dunkler Raum, hinlegen, Ruhe - das ist eigentlich das Beste. Nur im Alltag ist das meistens ja nicht möglich, sich einfach mal hinzulegen, sondern man nimmt dann sein Migräne-Mittel und versucht dann den Alltag weiter zu machen."
Schnell entsteht so ein weiterer Teufelskreis. Denn zu viele Medikamente führen ebenfalls zu Kopfschmerzen – quasi als Nebenwirkung. Vor allem bei chronischer Migräne ist das ein Problem. Diese Patienten leiden an mehr als 15 Tagen im Monat an Kopfschmerzen.
"Also seitdem ich hier bin weiß ich, dass man auf diese 10/20-Regel achten muss, also zehn Tage darf ich im Monat Schmerzmittel verwenden, 20 soll ich ohne versuchen, sonst bekomme ich diesen Medikamenten-Kopfschmerz. Vorher hat mir das niemand gesagt und ich habe fast täglich Schmerzmittel genommen, was das Ganze ja noch verschlimmert hat. "
In der Schmerzklinik Kiel macht die 27-Jährige jetzt unter ärztlicher Kontrolle eine Medikamentenpause. Vor drei Jahren war sie das erste Mal hier. Doch die vorbeugenden Therapien reichen nicht mehr, fast täglich quält sich Anna Bäuerlein mit Kopfschmerzen. Die Botox-Behandlung gibt ihr nun neue Hoffnung.
"So, und dann kommen schon die letzten Injektionen. Und damit sind wir durch - haben Sie ganz gut gemacht, Frau Bäuerlein. Ich hoffe, es war auszuhalten?" - "Ja, es war auszuhalten."
Die 27-Jährige lächelt. Die feinen Nadelstiche sind kein Vergleich zu einer Migräne-Attacke. sie hofft, dass Botox ihr Nervenkostüm stabilisiert und die Attacken weniger werden. Aber sie bleibt realistisch:
"Also ich weiß, dass Migräne nicht heilbar ist, aber ich erhoffe mir, dass ich die Lebensqualität zurückerhalte und dass ich ein bisschen weniger Schmerzen habe, das wäre schon sehr schön!"