Jung, fit und atemlos nach nur ein paar Treppenstufen oder total erschöpft nach einer Stunde arbeiten. Von solchen Zuständen berichten Menschen, die mit Corona infiziert waren. Sie leiden teilweise noch Monate später an diesen Symptomen. Häufig sind es auch jene Menschen, bei denen die akute Erkrankung gar nicht schwer verlaufen ist. Unter den Spätfolgen einer Corona-Erkrankung, die im Gesamten auch als "Long COVID" bezeichnet werden, könne die frühzeitige Erschöpfung besonders häufig beobachtet werden, sagte Carmen Scheibenbogen, Medizinerin an der Berliner Charité, im Deutschlandfunk. Der aktuelle Wissensstand lasse Parallelen zum postinfektiösen Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS) erkennen, so Scheibenbogen. Das Syndrom war lange vor COVID-19 bekannt und werde z.B. durch das Epstein-Barr-Virus oder durch Grippeviren ausgelöst.
Es seien deutlich häufiger Frauen, die an diesen Langzeitsymptomen leiden, erläuterte die Medizinerin. Scheibenbogen: "Autoimmunerkrankungen entwickeln eher die jüngeren oder mittelalten Menschen, und dazu passt auch, dass Frauen sehr viel häufiger betroffen sind, weil Frauen meistens ein aktiveres Immunsystem haben und deswegen auch leichter Autoimmunerkrankungen entwickeln."
Die momentanen Einschränkungen des Körpers akzeptieren
Bei den allermeisten Betroffenen heile CFS nach einer Corona-Erkrankung innerhalb der nächsten Monate aus. Wenn Herz und Lunge weitgehend in Ordnung seien, brauche man sich auch nicht zu beunruhigen, sagte Scheibenbogen. Äußerst wichtig sei für alle jene, die an einer Belastungsintoleranz litten, das sogenannte Pacing: "Das heißt, man muss erst mal in den Grenzen dessen bleiben, was einem die Erkrankung momentan vorgibt."
Stephanie Rohde: Sie sind ja auch im Austausch mit vielen anderen Kolleg*innen, mit welchen Symptomen kämpfen denn Menschen, die Long COVID haben, am häufigsten?
Carmen Scheibenbogen: An erster Stelle wird die Fatigue genannt, also die chronische Erschöpfung, aber Long COVID ist ein Überbegriff für unterschiedliche Folgezustände von COVID.
Rohde: Und welche wären das, also was beobachten da auch vielleicht Ihre Kolleg*innen?
Scheibenbogen: Ich glaube, am besten kann man das unterscheiden zwischen den Patienten, die bei uns stationär lagen mit einer Lungenentzündung, die oft auch beatmet werden mussten. Die haben in Folge oft anhaltende Lungenprobleme, die haben oft auch schwere mentale Probleme, wenn die lange Zeit beatmet waren. Auf der anderen Seite haben wir die Patienten, die eher ein mildes COVID hatten, also keine Lungenentzündung hatten und bei denen wir auch keine Organfunktionsstörung finden, die aber trotzdem anhaltend viele Symptome haben können.
Rohde: Die Spätfolgen sind offenbar ja nicht direkt abhängig von der Schwere der Corona-Erkrankung, also der akuten Erkrankung. Wie erklären Sie sich das?
Scheibenbogen: Die Patienten, die wir sehen, die waren meistens schon relativ krank. Die meisten hatten Fieber und mehrere Wochen erst mal richtiges Krankheitsgefühl, aber sie waren per Definition nicht schwer erkrankt, weil sie keine Lungenentzündung hatten. Warum bei manchen die Verläufe so langwierig sind und bei anderen nicht, das können wir bislang nur vermuten. Wir wissen, es hat zum einen was mit dem Alter zu tun – so ganz junge Menschen, die haben meistens nur einen ganz milden Verlauf von COVID. Es hat auch was mit dem Geschlecht zu tun, wir sehen deutlich mehr Frauen, die an diesen Langzeitsymptomen leiden. Was wir inzwischen wissen, ist, dass je mehr Symptome man anfangs hatte, man auch ein umso höheres Risiko hat für solche Langzeitverläufe. Aber warum es dann im Einzelfall diesen trifft und jenen nicht, das wissen wir noch nicht so genau.
Vermutete Parallelen zum chronischen Fatigue-Syndrom
Rohde: Das heißt, Sie können auch noch keine Kausalität nennen, noch nicht sagen, warum Long COVID nicht nur viele Frauen, sondern vor allem auch jüngere Menschen betrifft.
Scheibenbogen: Sagen wir mal so, wir vermuten, dass es Parallelen gibt zu dem, was wir schon sehr lange kennen als postinfektiöses Chronisches Fatigue-Syndrom. Das wird auch durch verschiedene Viren ausgelöst – Epstein-Barr-Virus ist häufig oder Grippeviren –, und da gehen wir davon aus, dass es eine Art Autoimmunerkrankung ist. Dazu passt eben gut der Altersbereich. Autoimmunerkrankungen entwickeln eher die jüngeren oder mittelalten Menschen, und dazu passt auch, dass Frauen sehr viel häufiger betroffen sind, weil Frauen meistens ein aktiveres Immunsystem haben und deswegen auch leichter Autoimmunerkrankungen entwickeln.
Rohde: Und verstehen Sie die Vorgänge da, also können Sie durchaus von dem, was Sie früher beobachtet haben mit diesem Chronischen Fatigue-Syndrom, können Sie da Dinge draus ableiten, um die jetzigen Symptome besser einzuordnen?
Scheibenbogen: Ja, also erste Dinge verstehen wir. Eine unserer ersten Fragen war natürlich: Wie sieht das Krankheitsbild überhaupt aus, ist es das, was wir auch vom Chronischen Fatigue-Syndrom kennen? Da gibt es verschiedene Symptome und Diagnosekriterien, die vorliegen müssen. Da können wir inzwischen sagen, dass in der Tat COVID bei einigen ein Chronisches Fatigue-Syndrom auslöst, was genauso aussieht wie ein Chronisches Fatigue-Syndrom, was wir zum Beispiel nach Epstein-Barr-Virus sehen. Was sagen wir mal jetzt die Mechanismen angeht, was da jetzt los ist auf molekularer, auf zellulärer Ebene, das ist natürlich sehr viel komplexer, und daran forschen wir gerade.
Bei den meisten gibt es Ausheilung innerhalb der ersten sechs Monate
Rohde: Wie lange leiden denn die Menschen im Durchschnitt an diesem Symptom, weil Sie jetzt auch schon von chronisch sprechen, muss man Angst haben, dass das chronisch wird bei vielen Leuten?
Scheibenbogen: Ja und nein. Erst mal, wenn wir uns anschauen so die ersten Wochen, da gibt es ja jetzt viele Berichte, da gibt es auch teilweise Apps, wo ganz viele Patienten auch ihre Daten eingeben, und da wissen wir, dass nach zwei und drei Monaten noch fünf bis zehn Prozent der Patienten krank sind, also nicht nur noch so ein bisschen Befindlichkeitsstörungen haben, sondern viele sind noch so krank, dass sie auch gar nicht richtig zurück ins Arbeitsleben kommen. Wir wissen aber auch, dass es bei den allermeisten dann über die nächsten Monate ausheilt. Von chronisch sprechen wir dann, wenn jemand anhaltend über sechs Monate krank ist und ohne Besserungstendenz.
Rohde: Und haben Sie da eine Prozentzahl, wie viele Menschen eine chronische Erkrankung daraus entwickeln?
Scheibenbogen: Noch keine genaue. Um ganz sichere Prozentzahlen zu haben, muss man ja quasi alle erfassen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt krank geworden sind, und dann von allen die Verlaufsdaten haben. Solche Studien laufen zurzeit in Deutschland. Momentan können wir nur grob schätzen, aber wir gehen schon davon aus, dass das eine relevante Zahl ist, also ganz vorsichtig vielleicht ein, zwei Prozent der Patienten, die jetzt im Frühjahr erkrankt waren, die nach sechs Monaten auch noch anhaltend mit diesen chronischen Symptomen Fatigue und vielen weiteren Symptomen krank sind und von denen etwa die Hälfte momentan auch die Diagnosekriterien für CFS hat.
Wenn es nach ein paar Monaten nicht besser wird – Laboruntersuchung
Rohde: Wie kann man denn den Betroffenen helfen, können Sie tatsächlich die Symptome lindern?
Scheibenbogen: Ja, wir haben dazu auch Informationen auf unserer Website, weil das ist ja jetzt ein ganz häufiges Problem, und viele sind verunsichert. Zunächst mal ist es so, dass wir sagen, was innerhalb der ersten vier Wochen ist, da braucht man sich nicht sehr zu wundern, weil das einfach zu der Erkrankung gehört, dass das langwierige Verläufe sind. Und wenn es dann nicht besser ist, sollte man eine Laboruntersuchung machen, man sollte, je nachdem, was für Symptome vorliegen, auch die Lunge sich noch mal anschauen, Herzuntersuchungen machen. Aber trotzdem, wenn das alles in Ordnung ist, dann braucht man sich auch nicht zu beunruhigen, dann ist die Chance groß, dass das einfach in den nächsten Wochen und Monaten ausheilt. Wir sehen die Patienten dann bei uns, wenn sie wirklich nach sechs Monaten immer noch krank sind.
Rohde: Werden Sie gerade überrannt, weil es gibt ja viele, die jetzt berichten von eben lang anhaltenden Symptomen.
Scheibenbogen: Ja, es ist leider so, dass wir im März, April das noch ganz gut stemmen konnten, aber jetzt kommen wirklich sehr, sehr viele Anfragen, und wir versuchen jetzt erst mal natürlich zu informieren. Es fragen nicht nur Patienten an, es kommen auch viele Anfragen aus Praxen, also diese Patienten sind nicht nur bei uns, und es kommen auch viele Anfragen von anderen Kliniken. Ich denke sicher, das ist eine ganz große Zahl
Rohde: Inwiefern können da zum Beispiel Hausärztinnen oder Hausärzte Ihnen weiterhelfen, dass die sich beispielsweise kümmern um diejenigen, die dann kommen?
Scheibenbogen: Also können die schon, es ist ja zunächst mal einfach eine symptomorientierte Behandlung. Ein ganz wichtiger Aspekt ist auch, dass man an einer Belastungsintoleranz leidet, das heißt, man merkt, dass wenn man zu viel macht, dass es einem schlechter geht, also wenn man versucht, wieder zu arbeiten, oder wenn man versucht, Sport zu machen und das geht nicht, dann muss man das auch so akzeptieren. Das nennt sich auch Pacing, das heißt, man muss erst mal in den Grenzen dessen bleiben, was einem die Erkrankung momentan vorgibt. Es ist oft zum Beispiel auch so, dass man nicht so gut schlafen kann, das ist auch ein ganz wichtiger Ansatzpunkt, dass man da zum Hausarzt geht, der hat verschiedene Möglichkeiten, den Schlaf zu verbessern – durch Entspannungstechniken, über Melatonin vielleicht auch mal kurze Zeit Medikamente nimmt. Es gibt manchmal Mangelzustände bei solchen chronischen Erkrankungen, oft ein Vitamin-D-Mangel, ein Eisenmangel, ein Vitamin-B12-Mangel, Selenmangel ist gezeigt, dass man das alles mal über Laboruntersuchungen sich anschaut, auch guckt, sind sonst die Werte in Ordnung, ist keine Entzündung im Körper. Das ist erst mal so eine symptomorientierte Behandlungsstrategie, und damit geht es auch vielen besser. Und die Patienten haben sich inzwischen auch relativ gut vernetzt, es gibt eine Reihe von Gruppen auch, die sich auch gegenseitig unterstützen und sich beraten.
Rohde: Gesundheitspolitiker*innen warnen jetzt ja vor den langfristigen Schäden von COVID, also in fünf oder zehn Jahren. Bei dem, was Sie jetzt aus der Praxis da beobachten an Fällen, ist das übertrieben?
Scheibenbogen: Ich möchte jetzt gar nicht über das, was in fünf oder zehn Jahren sein wird, spekulieren. Ich glaube, was viel relevanter ist: Wir werden viele Menschen haben, die chronisch krank sein werden nach COVID, und das schon in diesem Jahr, und dem müssen wir uns jetzt stellen. Wir müssen ganz schnell verstehen, was ist eigentlich los bei diesen Patienten, das heißt, wir müssen den Krankheitsmechanismus verstehen, um auf der Grundlage auch gezielt behandeln zu können, und gerade beim Chronischen Fatigue-Syndrom ist das in der Vergangenheit nicht passiert, das heißt, die Erkrankung ist bis heute nicht richtig verstanden, und deswegen gibt es auch bislang keine gezielten Behandlungen. Aber ich bin auch relativ zuversichtlich, dass wir, wenn wir das tun, die Erkrankung auch relativ schnell entschlüsseln können und dann auch gezielt behandeln können, wenn wir sehen, wie viele tolle Wissenschaftler wir in Deutschland haben, was jetzt zum akuten COVID alles schon veröffentlicht wurde. Und was mich auch ganz hoffnungsvoll stimmt: In den USA sind gerade 1,1 Billionen Euro für die Erforschung von Long COVID zur Verfügung gestellt worden. Ich denke, es ist ganz wichtig, dass wir uns in Deutschland dieses Problems auch annehmen.
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