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Medizingeschichte
Ich stinke, also bin ich

Glücklich, wer in der frühen Neuzeit nichts mit Medizinern zu tun hatte. Ludwig XIV. von Frankreich war dieses Glück nicht beschieden. 79 Jahre lang war der Sonnenkönig dem Martyrium seiner Leibärzte ausgesetzt.

Von Hans-Conrad Zander |
    Warum, meine Damen und Herren, hat König Ludwig XIV. von Frankreich eigentlich so fürchterlich gestunken? Die Tatsache selber ist so allgemein bekannt, dass sie nicht einmal von den Schulbüchern verschwiegen wird. Aber man findet dort eine eigentümlich vage Erklärung. Es sei, so hat man uns in der
    Schule gesagt, im 17. Jahrhundert ganz allgemein nicht üblich gewesen, sich zu waschen, und so habe eben nicht einmal der überaus reichliche Gebrauch von Parfüm am Hof des Sonnenkönigs zu Versailles die hygienischen Mängel der Zeit zu überduften vermocht.
    Diese Erklärung, so plausibel sie klingt, ist falsch. Natürlich hat jede Epoche ihren eigenen Gestank, und ein mittelalterlicher Mensch würde wahrscheinlich ohnmächtig, wenn er die chemischen Sauberkeits- und Schonheitpräparate röche, nach denen der ganz normale Mensch heute stinkt, aber wir selbst nicht wahrnehmen.
    Dass Ludwig XIV. stank, haben aber selbst die Zeitgenossen wahrgenommen. Zahlreich sind die diskreten Hinweise darauf, was für eine Qual es gewesen sein muss, sich mit dem Sonnenkönig aus der Nähe zu unterhalten oder gar sein Tischgenosse zu sein. Und wenn Madame de Maintenon, seine Mätresse, im Laufe der Jahre Immer frömmer wurde und ihrem Louis immer eindringlicher zuredete, er solle doch die religiöse Erbauung den Sünden des Fleisches vorziehen, so hatte das wahrscheinlich höchst weltliche Gründe, denn ein Kuss von den Lippen des Sonnenkönigs war zwar eine göttliche Ehre, nach der alle Damen des Hofes nur so lechzten - mit Ausnahme vielleicht von Lieselotte von der Pfalz -, aber ein Genuss war das nicht, und niemand wusste das besser als Madame de Maintenon.
    Dank sei deshalb dem französischen Historiker Louis Bedrand, der das historische Rätsel um die besondere Duftnote des großen Bourbonen mit allem gebotenen wissenschaftlichen Ernst geklärt hat. Professor Bertrand hat das getan, was man immer tun sollte, wenn mit dem körperlichen Befinden eines Menschen etwas nicht stimmt. Er hat Ausschau gehalten nach den Ärzten, die an ihm herumgedoktert haben. Da sind die Leibärzte des Sonnenkönigs, der Dr. Vallon, der Dr. Daquin und der Dr. Faggon. Lieselotte von der Pfalz hat sie alle drei wie die Pest gehasst, und in der Tat ist jeder von ihnen ein Arzt, wie er im Buche steht: ohne jede Kenntnis der menschlichen Realität, aber dafür vollgeblasen mit ärztlichem Standesbewusstsein und mit den medizinischen Dogmen von Europas renommiertester Universität, von der Sorbonne.
    Nehmen wir den Dr. Daquin. In seinen Händen befindet sich der Sonnenkönig während seiner blühendsten Mannesjahre. Im Kopf des Dr. Daquin sitzt das Dogma, dass es im ganzen menschlichen Körper keinen gefährlicheren Infektionsherd gebe als die Zähne. Und es schließt der Dr. Dacun aus diesem
    Dogma, dass man Zähne allenfalls im Munde eines gewöhnlichen Untertanen belassen könne, dass sie aber bei seiner Majestät dem König allesamt gezogen werden müssten, solange sie noch gesund seien. Dagegen sträubt sich Ludwig XIV., ein Freund der Tafel. Jetzt aber wendet der Dr. Daquin jenen
    Psychologischen Trick an, mit dem er jede seiner Ideen bei Ludwig durchzusetzen weiß. Er sagt, es sei für seine königliche Glorie nötig, ihm die Zähne allesamt zu ziehen. Am folgenden Tag notiert der Leibarzt in seinem Tagebuch: "Seine Majestät der König hat mir geantwortet, er sei für seine Glorie zu allem bereit, sogar zum Sterben."
    Ludwig XIV. ist nicht gerade gestorben beim großen Zähneziehen in Versailles, aber der Dr. Daquin geht immerhin so geschickt vor, dass er dem König zusammen mit den unteren Zähnen auch gleich den Kiefer zerbricht und ihm, zusammen mit den oberen Zähnen, einen großen Teil des Gaumens herausreißt, alles den Lehren der Sorbonne entsprechend: ohne Narkose. Der königliche Unterkiefer wächst nach einer Weile wieder zusammen, aber der herausgerissene Gaumen ist natürlich nicht wieder zu ersetzen. Den Dr. Daquin schert das nicht. Einen Monat später notiert er in seinem Tagebuch: "Zum Zweck der Desinfektion habe ich seiner Majestät das Loch im Gaumen 14 mal mit einem glühenden Eisenstab ausgebrannt."
    Fortan erleben die Tischgenossen seiner Majestät täglich das Spektakel, dass dem großen Bourbonen, wenn er trinkt, das halbe Glas Wein gleich wieder zur Nase heraussprudelt. Schlimmer noch: In der offenen Tropfsteinhöhle, mit der sich der Mund des Königs zur Nase öffnet, setzen sich ständig größere Brocken fester Nahrung auf so komplizierte Weise fest, dass sie sich erst nach Wochen durch die Nase auflösen, mit fürchterlichem Gestank.
    Derweil schlingt der Sonnenkönig riesige Mengen Nahrung durch seinen zahnlosen Mund unzerkaut herunter. Nichts hat ihm ja die Bewunderung seiner Zeitgenossen in solchem Maße eingetragen, wie sein ungeheuerer Appetit, denn der Appetit des Königs gilt im 17. Jahrhundert als ein Zeichen des göttlichen Segens für das gesamte Königreich. Aber Louis isst nicht, weil ihm der Himmel gewogen ist; er isst, weil er von frühester Jugend bis zu seinem Tod am Bandwurm leidet. Das steht heute zweifelsfrei fest, weil es zu den Aufgaben seiner Leibärzte gehörte, täglich einen detaillierten Bericht über die Exkremente seiner Majestät zu erstellen. Diese Berichte sind erhalten. So isst denn Louis mit maßlosem Appetit, ohne jemals satt zu werden. Zum Mittagessen zum Beispiel lässt er sich in einer einzigen riesigen Schüssel Enten, Hasen, Fasanen, Lerchen, Perlhühner, Tortues und Rebhühner servieren, das ganze vorher zehn bis zwölf Stunden lang in einundderselben Sauce zerkocht, denn der zahnlose König kann ja nicht mehr kauen. So suchen ihn den ganzen Nachmittag über fürchterliche Verdauungsstörungen heim. Kein Wort kommt in den ärztlichen Tagebüchern häufiger vor als das Wort ...?? Damit gemeint sind Blähungen aller Art. Häufig bleibt es nicht bei den Blähungen. Dr. Daquin notiert: "Seine Majestät hat heute wieder erbrochen, und zwar zur Hauptsache völlig unzerkaute und unverdaute Materien, darunter eine große Menge unverdauter Trüffel.
    Das macht dem Arzt aber keine große Sorge, denn an der Sorbonne wird das Dogma geleert, dass der Magen lange nicht so wichtig sei wie der Darm und dass im übrigen nur ein entleerter Darm ein gesunder Darm sei. So verschreiben denn die Ärzte des 17. Jahrhunderts gegen alle Krankheiten des Leibes und der Seele am laufenden Bande Abführmittel, etwa so wie heute viele Ärzte am laufenden Band Beruhigungstabletten verschreiben. Zum Glück kann sich der normale Untertan in Frankreich und Navarra einen Besuch beim Arzt nur selten leisten.
    Anders der König. Für die Gesundheit seiner Majestät: darüber sind sich die Leibärzte einig - sind nur die besten und stärksten Abführmittel gut genug, und zwar täglich eingenommen. Täglich muss Louis also sein Bouillon purgatif schlürfen, ein Sud aus Schlangenpulver, Weihrauch und Pferdemist. Erstaunlicherweise tut das schreckliche Gesöff durchaus seine schreckliche Wirkung. Und da es zu den vornehmsten Pflichten der Leibärzte gehört, täglich zu notieren, wie oft seine Majestät muss, so wissen wir, dass Ludwig der Große täglich so zwischen 14- und 18mal an jenem Örtchen sitzt, wohin selbst der König zu Fuß geht. Wohlgemerkt: Der König geht. Es ist vollkommen undenkbar, dass seine Majestät durch Versailles rennt. So ist es denn keineswegs seine persönliche Schuld, wohl aber eine hinreichende Erklärung für seine persönliche Duftnote, dass er häufig zu spät kommt.
    Im Jahre 1686 endlich bäumt sich das königliche Gedärm gegen die jahrzehntelange ärztliche Misshandlung auf. Zuerst mehren sich in den ärztlichen Tagebüchern Sätze wie "seine Majestät hat heute wieder Blut gestuhlt". Dann bildet sich am After seiner Majestät ein faustgroßes Geschwür. Der Sonnenkönig sitzt mit derart versteinertern Gesicht auf seinem Thron beziehungsweise auf seinem Geschwür, dass sich in ganz Europa das Gerücht verbreitet, der König von Frankreich liege im Sterben.
    Das Schloss von Versailles
    Versailles: Höflinge gieren nach des Königs Gesäßgeschwulst-Operation (picture alliance / dpa / Olivier Boitet)
    Jetzt ergeht der Befehl an alle Beamten des Reiches, alle jene Untertanen ausfindig zu machen, die ein ähnliches Geschwür am Hintern haben wie der König, und sie unverzüglich nach Paris zu bringen, zur Verfügung von Professor Felix. Über einen Monat lang hat Sorbonne-Professor Felix, eine chirurgische Kapazität, diesen bedauernswerten menschlichen Meerschweinchen den Hintern kreuz und quer aufgeschnitten und wieder zugenäht, um medizinische Erfahrungen zu sammeln für den ungleich wertvolleren Popo seiner Majestät. Er macht das auf so kompetente Weise, dass die Versuchspersonen gleich reihenweise auf den Friedhof gekarrt werden. Ludwigs Schmerzen aber sind inzwischen so unerträglich geworden, dass er am 17. November selber den Befehl erteilt, ihn - koste es, was es wolle - am folgenden Morgen auch zu operieren. Mit Rücksicht auf das königliche Prestige findet die Operation im kleinsten Kreis statt. De Maintenon, rezitiert laut das benediktinische Nachtgebet: "in manus tuas domine, commendos spiritum meum" – oh Herr, in Deine Hände befehle ich meinen Geist". Dann saust das gewetzte Messer von Professor Felix zehnmal auf den königlichen Popo nieder.
    Es ist wohl eher den Gebeten von Madame de Maintenon als der Kunst von Professor Felix zuzuschreiben, dass die Operation wider Erwarten gelingt. Aber alles, wirklich alles, was über den Hof von Versailles zu sagen ist, liegt in einer Notiz beschlossen, die jetzt im ärztlichen Tagebuch von Professor Felix folgt. Der Chirurg berichtet, dass sich in den Tagen nach der Operation mehr als 30 Höflinge bei ihm gemeldet haben mit dem dringenden Ersuchen, sie doch bitte, bitte an der gleichen Stelle zu operieren wie seine Majestät. "Ich habe", schreibt Professor Felix, "jeden der Herren eingehend am betreffenden Körperteile untersucht, habe aber nichts gefunden, was einen chirurgischen Eingriff rechtfertigen würde. Als ich ihnen diese Diagnose mittelte, war keiner unter ihnen, der nicht tief enttäuscht, ja beleidigt gewesen wäre."Derweil leidet Louis Schmerzen wie ein Pferd. Die Operation hat natürlich ohne Narkose stattgefunden. Gleich danach hat man ihn auch noch zur Ader gelassen. Anschließend drückt man ihn auf den Betschemel der Hofkirche für eine große Danksagungsmesse. Um seine Genesung zu demonstrieren, muss er sein Mittagessen vor 30 Personen einnehmen. Am Nachmittag muss er auf seinem blutig zerschnittenen Hintern zwei Stunden lang dem Großen Rat des Königreichs vorsitzen, denn selbst wenn der König vom Operationstisch kommt, ist es unmöglich, irgendetwas am pompösen Tageslauf in Versailles zu ändern.
    Bleibt die Frage, wie Ludwig XIV. das grauenhafte Martyrium, das ihm seine Ärzte zugefügt haben, durch 79 Jahre seines Lebens überhaupt aushalten konnte. Zwei Dinge kommen da zusammen: einmal die unerhört robuste Konstitution des Königs. Kaum ist er am 5. September 1636 geboren, da schreibt schon der schwedische Gesandte nach Stockholm, der Säugling sei so außerordentlich kräftig, dass drei Stillmütter kaum mit ihm fertig würden, und es möge sich die Welt hüten vor einem Thronfolger, der schon in den Windeln so unerhörte Energien entwickle. Es sind diese unerhörten Energien, die 79 Jahre lang der Spinnerei der Ärzte getrotzt haben. Das zweite aber ist die Mentalität Ludwigs XIV. Von der französischen Historikerin Madeleine Jacquemaire stammt das Wort, "mit Ludwig XIV. habe 75 Jahre lang auf dem französischen Thron kein Franzose gesessen, sondern ein Spanier". Auf jeden Fall hat Ludwig XIV. seinen französischen Väter, Ludwig XIII., Zeit seines Lebens so maßlos verachtet, dass es verboten war, in seiner Gegenwart von seinem Vater auch nur zu sprechen. Ebenso maßlos bewundert und verehrt hat er dagegen seine spanische Mutter, Anna von Österreich. Ihrem Vorbild hat er ein Leben lang nachgeeifert, in seinem absolutistischen politischen Ehrgeiz ebenso wie in seiner persönlichen Lebensauffassung. Da ist zum Beispiel seine Einstellung zu Krankheit, Schmerz und Leiden. Sie ist total unfranzösisch. Die menschliche Sensibilität, die zum Beispiel ausmacht, dass es in Frankreich anders als in Deutschland keineswegs als Schande gilt, über Schmerzen zu klagen und um das Mitleid anderer Menschen zu betteln. In diesem Sinne war Ludwig XIII. ein überaus typischer Franzose. Von morgens bis abends hat er den ganzen Hof mit seinen Krankheitsgeschichten unterhalten, und die Höflinge haben um so interessierter zugehört, als sie alle sehnlichst hofften, der König möge das Zeitliche segnen.
    Völlig anders Ludwig XIV. Nie ist dem Sohn der Spaniern auch nur ein einziges Wort der Klage über die Lippen gekommen. Noch die schlimmsten Torturen, die ihm seine Ärzte zufügten, hat er mit der heroischen Unfühlsamkeit eines Spaniers wortlos ertragen. Und majestätisch wie ein spanischer Grande ist er durch Versailles stolziert, den Bauch von Blähungen gepeinigt, die Hosen voll, die verstopfte Nase aber so verächtlich über die ganze Menschheit hochgezogen, als wolle er noch in seiner peinlichsten Schwäche die Welt beschämen mit einem souveränen "lch stinke, also bin ich!"