Es ist eigentlich kein großes Geheimnis: Männer und Frauen sind biologisch unterschiedlich. Produktmanager machen sich das schon lange zunutze – vom Rasierer bis zum Laufschuh gibt es alles zugeschnitten auf jeweils Mann und Frau. Ausgerechnet wenn es um die Gesundheit geht, wird allerdings gerne angenommen, dass die beiden Geschlechter sich zureichend ähnlich sind. Erklärt Deborah Clegg, Wissenschaftlerin am Cedars-Sinai Medical Center in Los Angeles.
"Wenn eine Frau etwa die Diagnose Herzkreislauf-Erkrankung bekommt, wird sie behandelt, als wäre sie ein Mann. Das ist ein Problem. Wir wissen, dass Frauen seltener herzkrank werden als Männer. Da ist also ein Unterschied. Die Wirksamkeit der Medikamente ist aber oft nur an Männern geprüft. Wir wissen also eigentlich nicht, ob die Medizin der Frau tatsächlich hilft."
Ob Mensch, Maus oder Zellkultur: Als Versuchskaninchen wird Männchen traditionell der Vorzug gegeben. Die ständige Veränderung des Hormonspiegels, die durch den weiblichen Zyklus verursacht wird, ist ein unkontrollierbarer Einfluss, den Forscher lieber umgehen. Erst seit 2004 müssen bei Zulassungsstudien in Europa mögliche Geschlechterunterschiede explizit berücksichtigt werden. In den USA werden Medikamentenstudien seit Kurzem nur noch mit öffentlichen Geldern gefördert, wenn Männer und Frauen repräsentiert sind. Für Deborah Clegg sind das Schritte in die richtige Richtung. Bis zum Ziel sieht sie aber noch einen weiten Weg.
"Die Leute wissen nicht, wie man das umsetzen muss. Es gibt verschiedene Faktoren, die eine Rolle spielen, wenn es darum geht, Geschlecht als biologische Variable zu untersuchen. Und das ist nicht nur männlich oder weiblich. Es reicht nicht zu sagen: 'Okay, wir haben uns auch Frauen angesehen und es gab keinen Effekt'."
Wenn Frauen nach und vor der Menopause, mit und ohne Anti-Baby-Pille zu einer Gruppe zusammengefasst werden, kann dabei eine Wechselwirkung von Sexualhormonen mit einer getesteten Substanz übersehen werden. Um zu wissen, ob ein Medikament wirkt, müssen die Hormone in die Auswertung mit einbezogen werden.
Das gilt insbesondere dann, wenn es darum geht zu verstehen, warum eigentlich manche Krankheiten bei einem Geschlecht häufiger vorkommen. Wieso treffen Herzkreislauf-Erkrankungen und Diabetes so viel öfter Männer? Warum leiden gerade Frauen häufiger unter Autoimmunschwächen und Osteoporose? Werden diese Krankheiten allein durch die Sexualhormone begünstigt? Oder gibt es tiefer liegende genetische Ursache? Fragen, die Deborah Clegg mithilfe von transsexuellen Versuchspersonen erforscht.
"Jede Zelle im Körper eines transsexuellen Mannes ist männlich, trägt ein X- und ein Y-Chromosom. Durch die geschlechtsanpassende Hormonbehandlung interagieren die Chromosomen jetzt aber mit weiblichen statt männlichen Hormonen. Dadurch kann man Rückschlüsse darauf ziehen, welche Faktoren eine Krankheit begünstigen. Sind es die Chromosomen? Eines der Sexual-Hormone? Oder das Gleichgewicht zwischen den Hormonen?"
Frauen haben ein geringeres Risiko für Herzkreislauf-Erkrankungen. Wenn ausschließlich die höhere Konzentration weiblicher Sexualhormone der Grund dafür ist, sollten transsexuelle Männer durch die Hormontherapie geschützt sein. Die entsprechenden Untersuchungen von Deborah Clegg und ihren Kollegen zeigen, dass die Rechnung nicht ganz so einfach ist. Ihre Ergebnisse legen einen zusätzlichen Einfluss der Geschlechtschromosomen nahe.
Weiter anzunehmen, dass Männer und Frauen zureichend ähnlich sind, um medizinisch gleich behandelt zu werden, hält die Wissenschaftlerin mit Blick auf solche Ergebnisse für absurd. Im Gegenteil: Sie ist sich sicher, ein besseres Verständnis für die Ursachen von Geschlechtsunterschieden ist das Beste für die Gesundheit von jedem einzelnen:
"Hier in den USA, aber auch in Europa werden große Hoffnungen auf personalisierte Medizin gelegt. Ich denke, wenn solche Ansätze funktionieren, dann nur, wenn das Geschlecht systematisch berücksichtigt wird. Sonst wird 'meine' personalisierte Behandlung die selbe sein wie die meines Mannes."