Der Ausblick aus dem Wartezimmer der Hausarztpraxis von Ulrich von Rath ist grandios. Unten am Skandinavienkai haben gleich mehrere riesige Fähren festgemacht. Von hier in Travemünde brechen sie auf nach Schweden, Finnland und ins Baltikum.
Ulrich von Rath ist mit seiner Hausarztpraxis erst vor wenigen Monaten ins Hafenhaus gezogen, einem modernen Bürogebäude. Auch er möchte Aufbruchsstimmung verbreiten, seine Patienten besser betreuen als es in vielen anderen Praxen möglich ist. Heidrun Ehm freut sich darüber. Die 76-Jährige leidet an einer Art Leukämie. Seit rund einem Jahr kommt sie in die Praxis von Ulrich von Rath.
Heidrun Ehm: "Ich fühle mich sehr wohl hier. Weil: Bei meinem früheren Arzt habe ich das Gefühl gehabt, der hat nicht mal die Arztbriefe gelesen, die er bekommen hat. Und hier hat man das Gefühl, die denken auch abends noch drüber nach, wie sie mir helfen können."
Neben der Rentnerin sitzt Jens Wolf im Wartezimmer. Der 50-Jährige hat eine Knochenerkrankung und hat schon viele Praxen in ganz Deutschland gesehen. Er wünscht sich eine andere Verteilung der Gelder im Gesundheitssystem. Mit einem Ziel:
Jens Wolf: "Dass der Patient noch Patient ist. Und das ist hier wirklich noch eine Ausnahme, dass sich der Herr Doktor von Rath sich auch die Zeit nehmen, die notwendig da ist. Dass das sicher nicht das Finanzielle widerspiegelt, was es eigentlich wert wäre."
Lange Wartezeiten für einen Termin
In seiner früheren Praxis sei es schwer gewesen, der Nachfrage hinterherzukommen, sagt Hausarzt Ulrich von Rath. 12 bis 14 Stunden habe er da teilweise gearbeitet. Pro Tag. Für einen regulären Termin hätten die Patienten schnell auch mal ein paar Monate warten müssen, so der 50-Jährige.
Rath: "Und wir hatten zusätzlich noch bei uns an der Anmeldung zum Teil Heulszenen, weil Patienten oder Neubewohner von Travemünde keinen Hausarzt finden konnten. Das fand ich menschenunwürdig."
Von Rath und sein Team haben umgesteuert. Bei der Organisation der Terminvergabe aber auch was das Praxisklima angeht.
Umsteuern - das ist vielerorts in Deutschland bei der hausärztlichen Versorgung dringend nötig. Der demografische Wandel trifft auch den hohen Norden, sagt Jost Steinhäuser. Seit 2014 leitet er das Institut für Allgemeinmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Lübeck. 35 Prozent der Hausärzte zwischen Nord und Ostsee seien über 60, so Steinhäuser.
Jost Steinhäuser: "Dementsprechend - wir haben etwas über 1.900 Hausärzte in diesem Bundesland - kann man absehen, dass diese Kollegen wahrscheinlich, also rund 660, in den nächsten Jahren einen Nachfolger, eine Nachfolgerin suchen werden."
Doch wird das auch in Schleswig-Holstein immer schwieriger. Gerade jüngere Ärztinnen und Ärzte wollen nur noch selten direkt nach dem Studium in die Selbstständigkeit. Auch die Praxis im Hafenhaus von Lübeck-Travemünde will sich mehr an den Interessen ihrer Mitarbeiter orientieren.
Für alle Mitglieder des Teams - egal ob Arzt, Ärztin oder medizinische Fachkraft - sollen Arbeitszeiten flexibel gestaltet und damit Kinderwünschen und Kindererziehung nicht im Weg stehen.
Christine Kühnel: "Jetzt gerade in der Infektzeit ist es leider so, dass sie auch hin und wieder krank sind und man dann auch mal ohne schlechtes Gewissen zu Hause bleiben kann und sich um die kranken Kinder kümmern kann und auch sonst Arbeitszeiten durchaus in Absprache geschehen sind, so dass ich das gut mit meiner Familiensituation vereinbaren kann."
Muss der Ärztemangel hingenommen werden?
Christine Kühnel ist 38 Jahre alt. Als Internistin hat sie bereits fünf Jahre in Norwegen gearbeitet. Seit dem vergangenen Sommer ist sie zurück in Deutschland. Nun macht sie in der Praxis von Ulrich von Rath ihre Weiterbildung zur Allgemeinmedizinerin. Mit der Ausrichtung als Lehrpraxis hofft der "Chef" auch einen Beitrag zur medizinischen Versorgung im Land zu leisten.
Ulrich von Rath: "Meine Vision ist, dass wir hier 'Tandems' ausbilden. Also, Ärzte die neuen Strukturen kennenlernen, hier leben und MFAs - Medizinische Fachangestellte - die das genau so lernen, und die dann, wenn sie das möchten, gemeinsam eine neue Praxis aufmachen können oder eine ältere Praxis übernehmen können."
Doch die medizinische Versorgung bleibt trotz dieser Maßnahmen auch in Schleswig-Holstein ein schwieriges Thema. Das hat sich in den letzten Jahren gerade in Nordfriesland gezeigt. Zum Beispiel bei der Schließung der Kreißsäle auf den Nordseeinseln. Ebenso wie bei den Diskussionen über die künftige Aufstellung des Klinikums Nordfriesland. Müssen wir also das zunehmende Ausdünnen der ärztlichen Versorgung auf dem Land hinnehmen? Jost Steinhäuser vom Universitätsklinikum Schleswig-Holstein:
Steinhäuser: "Ich glaube, dass die Trends, die die Bevölkerung hat, auch bei den Ärzten ist. Das heißt, wenn es eine Region gibt, in der die Bevölkerung abwandert, ist es sehr unwahrscheinlich, dass ausgerechnet der junge Arzt, die junge Ärztin dann da hinzieht, das halte ich für relativ unwahrscheinlich. Nichtsdestotrotz: Ein Ausdünnen ist momentan aus unseren Zahlen nicht zu sehen."
Karola Tiedemann: "Hallo, hier ist Travemünde!"
Hoffnung setzt Jost Steinhäuser auch auf die Telemedizin. Sein Institut begleitet die Praxis am Hafenhaus in Travemünde bei einem Pilotprojekt, das erst vor wenigen Tagen angelaufen ist. Das Ärzteteam kann sich von hier aus digital einfacher mit Kollegen anderer Fachrichtungen austauschen. Gerade für dünn besiedelte Regionen könnte das die Versorgung verbessern.
Aune Hinz, die in der Praxis im Hafenhaus als Entlastungsärztin arbeitet, testet an diesem Morgen zum ersten Mal die Verbindung ins rund 100 Kilometer entfernte Rendsburg. Sie schaut auf die Frau, die jetzt auf ihrem Bildschirm erscheint und meint:
Aune Hinz: "Also, wir haben uns noch nie gesehen und wir haben diesen Weg auch noch nie benutzt."
Bloße Kontrollbesuche beim Arzt könnten künftig wegfallen
In Rendsburg sitzt die Augenärztin Carolin Engel ebenfalls am Computer. Auch sie freut sich über die gute und stabile Gesprächsqualität und hofft, dass davon nicht nur Ärzte, sondern auch Patienten profitieren.
Carolin Engel: "Also, auf jeden Fall Diabetes-Patienten fallen mir da direkt ein. Auch sonst andere chronische Erkrankungen, die sich auch am Auge zeigen, wo sie eben so ein Feedback haben wollen oder auch dem Hausarzt ein Feedback geben, wie es bei uns aussieht."
Durch solche digitalen Kurz-Konsultationen könnte mancher Arzttermin zur bloßen Kontrolle in Zukunft wegfallen, schätzt Karola Tiedemann. Die 44-Jährige arbeitet in Travemünde als Medizinische Fachkraft.
Tiedemann: "Und ich glaube, dass das 15 Prozent mindestens am Anfang auch sein können und vielleicht sogar auch mehr. (…) So hat man halt eben ein vis-à-vis. Und dann hat man auch keine Berührungsängste. Finde ich cool, oder? Ich seh' das so!"
Engel: "Ja!"
Ob das am Ende die Patienten auch so sehen? Das werden die nächsten Monate zeigen.