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Medwedew zieht die Notbremse

Seit Ewigkeiten hält sich das Klischee, dass Russen vor allem eines seien: trinkfest. Neue Umfragen belegen nun, dass in keinem Land auf der Welt so viel getrunken wird wie in Russland. Präsident Medwedew will den Kampf gegen den Alkohol aufnehmen.

Mareike Aden berichtet aus Moskau | 20.11.2009
    An der U-Bahnstation Tretjakowskaja, im Zentrum von Moskau, treffen sich jeden Abend Hunderte von Moskauern nach Feierabend auf ein Bier – oder mehrere – so auch an diesem kalten Novemberabend. Es sind junge Studenten oder Menschen in Bürokleidung. Auch Bauingenieur-Student Sergej kommt regelmäßig mit Freunden hierher, bevor es nach Hause geht oder auf ein Konzert. Dabei ist Alkoholkonsum auf öffentlichen Plätzen, schon gar in der Nähe von U-Bahnstationen, in Russland seit ein paar Jahren verboten. Das weiß Sergei so gut wie die meisten anderen hier.

    "Wir machen es trotzdem, weil wir heute Lust darauf haben. Und wenn jetzt ein Milizionär vorbei käme, dann würde er so tun, als ob er das nicht sieht."

    Und Sergeys Freundin Natascha, ebenfalls eine Bierflasche in der Hand, fügt hinzu:

    "Die meisten Leute trinken doch wo sie wollen – und viele trinken sogar in der U-Bahn Alkohol. Erst gerade haben wir gesehen, wie jemand gestürzt ist, weil er so betrunken war. Klar, man kann den Menschen das Trinken draußen verbieten, aber dann machen sie es eben zu Hause. Im Grunde soll jeder selbst entscheiden dürfen, wo und wie viel er trinkt."

    Doch Präsident Dmitri Medwedew sieht das anders: "Ein nationales Desaster" nennt er den hohen Alkoholkonsum der Russen: Laut einer Studie werden in Russland pro Kopf jährlich 18 Liter purer Alkohol getrunken. Die Weltgesundheitsorganisation sieht schon eine Menge von neun Litern als gesundheitsschädigend und lebensbedrohlich an. Daher hat Medwedew nun eine neue Antialkohol-Kampagne angekündigt – die erste seit den Versuchen von Michail Gorbatschow zu Sowjetzeiten. Eine richtige Entscheidung, sagt Sergei Michejew von der Moskauer Stiftung für Politikwissenschaft.

    Im Vergleich zu damals hat sich die Zahl der Alkoholabhängigen verdoppelt, vielleicht sogar verdreifacht. Mit schlimmen Folgen: die Zahl der Verbrechen unter Alkoholeinfluss ist gestiegen, ebenso wie die Zahl der Verkehrsunfälle: In 60 Prozent der Fälle steht der Fahrer unter Alkoholeinfluss. Und die Arbeitsproduktivität ist deutlich gesunken. Alkoholismus ist für Russland ein riesiges Problem – der Präsident muss von oben mit neuen Gesetzen einschreiten.

    Seit August feilen Arbeitsgruppen nun an neuen Gesetzen: Das Mindestalter für Alkoholkonsum könnte von 18 auf 21 Jahre erhöht werden - die Geldstrafen für Verkäufer und Konsumenten, die sich daran nicht halten, sollen steigen. Bisher sind die Strafen und Kontrollen gering: selbst Zwölfjährige können meist Bier oder Alkopops kaufen. Bereits beschlossen hat das russische Parlament, die Steuern auf Bier um ein Dreifaches zu erhöhen. Doch dadurch sei der Kampf gegen den vor allem bei Frauen und jungen Leuten gestiegenen Bierkonsum nicht zu gewinnen, sagt Michejew.

    "Viele Menschen in Russland sehen Bier nicht als Alkohol und denken, dass man von Bier nicht zum Alkoholiker werden kann. Alkoholiker ist für die meisten nur, wer täglich Wodka trinkt. Das liegt auch an der weit verbreiteten Bierwerbung hier: Die Menschen bekommen den Eindruck, dass man Bier wie Wasser trinken und sich sogar die Zähne damit putzen könnte. Man glaubt, es rund um die Uhr trinken zu können."

    Doch die Alkohollobby in Russland ist einflussreich und hofft, dass die Maßnahmen von oben ihre Geschäfte nicht allzu sehr stören. Wadim Drobis, vom Alkohol-Forschungszentrum Ziffra, das der Alkoholindustrie nahesteht, beschwört daher den Mythos, Alkohol und die russische Seele seien untrennbar miteinander verbunden – umso mehr in Zeiten der Krise.

    "Zentraler Punkt der Anti-Alkoholismus-Kampagne sollte es sein, die Russen dazu zu bringen, weniger starken und dafür hochwertigeren Alkohol zu trinken. Den Russen das Trinken abzugewöhnen, das ist sehr schwierig."

    Doch gerade das sei nötig, sagt Sergei Poliatkin, der medizinische Leiter der Moskauer Stiftung "Nein zu Alkohol- und Drogensucht".

    "Es ist ein falscher Ansatz, den Leuten beibringen wollen, qualitativ hochwertigen oder anderen Alkohol zu trinken. Sie müssen so wenig wie möglich trinken, denn wenn Menschen sterben, dann, weil sie zu große Mengen in zu kurzer Zeit trinken. Der Konsum muss also minimiert werden – alles andere nutzt nur der Alkohollobby, nicht den Menschen."