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Meeresbiologie
Wanderer unter dem Treibeis

Polardorsche spielen für das Ökosystem des Nordpolarmeers eine Schlüsselrolle. Die Fische sind die wichtigste Nahrung für Robben, Wale und Seevögel in der Arktis. Doch das Wissen über sie ist lückenhaft. Meeresbiologen des Alfred-Wegener-Instituts haben ihr Leben unter dem Polareis erforscht.

Von Lucian Haas |
    Polardosch
    Der Polardorsch (picture alliance / dpa / Hinrich Bäsemann)
    Der Polardorsch ist eine häufige Fischart im Nordpolarmeer – mit einem ungewöhnlichen Merkmal. Anders als die meisten anderen Fischarten nutzen Polardorsche nicht nur das offene Meer, sondern auch eisbedeckte Regionen als Lebensraum.
    "Beim Polardorsch ist es so, dass die Jungtiere, die weniger als ein Jahr alt sind, vor allem unter dem Eis sitzen und dort Nahrung vorfinden."
    Hauke Flores ist Meeresbiologe am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Gemeinsam mit Kollegen erforscht er das Leben unter dem Polareis. Bisher war wenig darüber bekannt, wie weit der Polardorsch dort tatsächlich verbreitet ist. Gibt es nur lokale Vorkommen, oder nutzen die Fische den Lebensraum großflächig? Um das herauszufinden, gingen die Forscher auf Polardorschfang, und zwar gezielt unter dem Eis. Dafür setzten sie ein spezielles Schleppnetz ein, groß wie ein veritables Mittelklasseauto und mit einer besonderen Technik.
    Mit dem Unter-Eis-Schleppnetz unterwegs
    "Es sinkt nicht wie die Grundschleppnetze zum Boden, sondern es hat Auftriebskörper angebracht, sodass es immer an der Oberfläche treibt. Gleichzeitig ist es so angehängt am Schiff, dass es zur Seite ausschert, also nicht hinter dem Schiff, sondern etwas seitlich versetzt neben dem Schiff fischt. Und da es die Auftriebskörper hat, wird es, wenn es unter dem Eis ist, direkt von unten gegen das Eis gedrückt."
    An 13 Stationen zwischen Grönland, Spitzbergen und Sibirien zog der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern das Unter-Eis-Schleppnetz kilometerweit hinter sich her.
    "Das Spannendste, was wir herausgefunden haben, ist, dass diese Polardorsche nicht zufällig irgendwo mal unter dem Eis vorkommen. Sondern in dem ganzen Gebiet, das wir abgedeckt haben, im sogenannten eurasischen Becken: Dort haben wir die Polardorsche überall angetroffen."
    Die europäischen Polardorschbestände sind seit Jahren rückläufig
    Mit diesem Wissen kam den Forschern eine Idee: Könnte es sein, dass junge Polardorsche von ihren Laichgebieten vor Russland mit dem Treibeis den arktischen Ozean überqueren und bis in europäische Gewässer gelangen? Carmen David, eine Kollegin von Hauke Flores, machte sich daran, diese Hypothese zu überprüfen. Sie identifizierte auf Zeitreihen von Satellitenbildern jene Eisschollen, unter denen die Polardorsche gefangen wurden. So konnte sie den Weg des Eises bis zum Ursprungsort zurückverfolgen. Hauke Flores:
    "Die Driftzeit dieser Eisschollen passte sehr gut zum Alter der Polardorsche, das wir gefunden haben. Und so haben wir einen starken Hinweis darauf, dass das tatsächlich passiert, dass die Polardorsche von Sibirien quer über die Arktis nach Europa kommen."
    Interessant ist diese Erkenntnis vor dem Hintergrund, dass die europäischen Polardorschbestände seit Jahren rückläufig sind. Die mit dem Eis einwandernden Jungfische aus Sibirien könnten helfen, die Bestände zu sichern. Allerdings fürchten die Forscher: Wenn in Zukunft durch den Klimawandel das Eis im Polarmeer schwindet, bliebe dieser Zuzug möglicherweise aus.