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Meg Stuart in Berlin
Mikroskopische Tänze

Bei ihrem Soloauftritt in Berlin seziert Meg Stuart ihren Körper auf der Bühne. Die Spiele der Muskeln, die zeitliche Perfektion: all das zusammen wirkt atemberaubend leidenschaftlich und dabei klinisch sauber. Eine Studie über das Wesen des Körpers.

Von Franziska Buhre | 27.03.2014
    Die amerikanische Choreografin und Tänzerin Meg Stuart (Hunter/Damaged Goods).
    Mit exakten Schritten und perfektem Schwung geht Choreografin Meg Stuart in Berlin selbst auf die Bühne. (Iris Janke)
    Unter dem dunkelblauen T-Shirt kündigen die Wölbungen rund um die Schultern bereits Sprungbereitschaft an: Das Muskelmassiv in der Schulterregion ist deutlich sichtbar nach Meg Stuarts fordernder Tanzpraxis geformt. Die Choreografin fordert sich selbst Entgrenzung ab und überschreitet die Schwelle zum Monströsen, zu den Abgründen menschlichen Seins ohne eine Spur von Angst.
    Diese Tour de Force bereitet sie in "Hunter", ihrem neuesten Solo, zunächst sorgfältig vor:
    Mit dem Rücken zum Publikum sitzend werden ihre Hände auf Stoffbahnen im hinteren Teil der Bühne projiziert. Auf einer Drehscheibe collagiert sie Kinderfotos und Zeitungsabbildungen, arrangiert diese schließlich senkrecht und lässt sie rotieren.
    Was dieses Karussell voller Erinnerungssplitter in Miniatur ist, stellt das Bühnenbild groß im Raum dar. Unter einem Metallgestänge, das bis ins Publikum ragt, leuchtet ein heller Tanzboden aus Holz. Meg Stuart erforscht diese leere Fläche als Ansammlung von persönlichen Erinnerungsräumen, die sich abwechseln, einander überlagern oder voneinander abstoßen.
    Inmitten von Kinderstimmen, Eltern- und Großelternstimmen, fernen Echos aus Musikstücken und mäandernden Klangspuren, mit denen Vincent Malstaf den Tanzboden umgibt, überlässt sich Meg Stuart dem Strudel ihres Körpergedächtnisses.
    Eine Choreografie, die sich mehrmals zu sehen lohnt
    Die sorgsam entblößten Unterarme irrlichtern im Verbund mit ihrem hellblonden Haarschopf vom Brustkorb weg in die Höhe. Sie umfangen den Kopf und scheinen von außen angetrieben und nicht aus den Schultergelenken der Choreografin selbst. Während sie rückwärts geht, erscheint ihr Oberkörper aufgespalten in viele durchpulste Zentren. Urplötzlich durchzuckt ein tonloses Lachen ihren Leib von oben bis unten, dämonische Fratzen huschen über ihr Gesicht. Auch in den aufreibendsten Sequenzen ist ihr Atem nicht zu hören, und so sieht man nicht länger den Körper einer konkreten Person, sondern verschiedene Aggregatzustände menschlicher Körperlichkeit. Zu den Techniken der Entgrenzung, die Meg Stuart bis in die kleinste Geste choreografiert, gehört die Wiederholung – mal als hochbeschleunigtes Beben, mal als wiederholte Suche einer Hand nach dem Gesicht.
    Meg Stuart hat ein atemberaubendes Gespür für die Zeitlichkeit von Bewegung. Zögern und wieder ansetzen, durch eine Sequenz gleiten und sich in der nächsten den Blicken der Zuschauer aussetzen – so viele Schattengestalten Meg Stuart im Verlauf von "Hunter" auch annimmt, blitzt ebenso unterschwellig ihr Humor auf. Ein voluminöses Kleid aus bunten Flicken wird zur absurden Behausung, eine meterlange Kunsthaarperücke zur weichen Decke. Die blanke Wirbelsäule erinnert in wenigen Sekunden an Stuarts Zentralorgan der Verwandlung, mit der Schere in der Hand findet sie in einer der Videoprojektionen andere Routen durch ihr T-Shirt am Körper.
    Die schiere Präsenz von Meg Stuart entfaltet auf der Bühne eine ergreifende Sogwirkung.
    Und obwohl sie viele ihrer Körperstadien durch die Wiederholung erreicht, ist es, als sehe man jede Bewegung im Augenblick ihres Entstehens zum ersten Mal. Wie Meg Stuart unbedingte Körperlichkeit in das raumzeitliche Gefäß einer Choreografie gießt, ist ohne Beispiel im zeitgenössischen Tanz. "Hunter" ist ein Stück zum Immer-wieder-Sehen.