Graphit, Diamant, Graphen, Nanotubes, Fullerene. Das alles sind verschiedene Varianten eines chemischen Tausendsassas, nämlich von Kohlenstoff. Abhängig von den Umgebungsbedingungen bildet das Element dreidimensionale Kristallgitter, Bälle, Röhrchen oder auch hauchfeine Schichten. Eine Spielart allerdings fehlte noch, und zwar:
"Carbon, Carbon, Carbon, Carbon, Carbon, Carbon.”
Lange, eindimensionale Gebilde, bei denen sich ein Kohlenstoffatom ans andere reiht wie die Perlen einer Kette, beschreibt Angel Rubio vom Max-Planck-Institut für Struktur und Dynamik der Materie in Hamburg. Carbin, so heißen die ultradünnen Kohlenstoffketten im Fachjargon. Bislang ließen sich stets nur recht kurze Ketten synthetisieren, mehr als 44 Atome waren nicht drin. Der Grund: Carbin ist chemisch überaus reaktiv, und deshalb zerfielen die Ketten immer, bevor sie zu einer ordentlichen Länge wachsen konnten. Doch nun ließ sich ein internationales Forscherteam einen raffinierten Trick einfallen: Um Carbin zu produzieren, nutzte es eine spezielle Art von Brutkasten - und zwar lange, doppelwandige Nanoröhrchen, sagt Thomas Pichler, Physiker an der Uni Wien:
"Wie eine Zwangsjacke, wenn Sie so wollen. Und dann hat das Ding keinen Platz und muss praktisch als Kette wachsen bei den hohen Temperaturen."
Die doppelwandigen Nanoröhren boten ausreichend Schutz vor der Außenwelt, in ihrem Inneren konnte der Kohlenstoffstrang dadurch gehörig in die Länge wachsen. Das Resultat:
"Wenn man es innerhalb der Nanoröhren wachsen lässt, ist es bis zu 6000 Kohlenstoffatome lang - also mehr als einen Faktor 100 länger."
Damit misst die Kette immerhin einen Mikrometer - für Nanomaßstäbe eine mehr als respektable Länge. Allerdings war es nicht ganz einfach, das Carbin in den Röhrchen nachweisen zu können, sagt Angel Rubio:
"Für diesen Nachweis mussten wir mehrere Techniken kombinieren - darunter auch jene Mikroskopie-Methode, für die Stefan Hell aus Göttingen 2014 den Chemie-Nobelpreis erhalten hatte. Außerdem nutzen wir die sogenannte Raman–Spektroskopie. Sie half dabei, die Kohlenstoffkette von den Nanoröhren, die ja ebenfalls aus Kohlenstoff bestehen, zu unterscheiden. Und schließlich mussten wir neue theoretische Modelle entwickeln, um zu ermitteln, wie lang die Kette genau war."
Nun geht es darum, die Eigenschaften des Carbin zu vermessen. Doch das ist gar nicht so einfach für das Team von Rubio und Pichler, denn es stehen gleich mehrere Hürden im Weg.
Angel Rubio: "Wichtig wäre es, größere Mengen an Carbin zu haben. Um seine Eigenschaften besser untersuchen zu können, müsste man es in größeren Mengen herstellen können."
Thomas Pichler: "Der nächste Schritt wäre dann, die Ketten herauszubekommen aus den Nanoröhren. Aber da sind wir noch an der Arbeit."
Theoretisch aber sollte Carbin faszinierende Eigenschaften zeigen. So könnte es - relativ gesehen - das Material mit der höchsten Zugfestigkeit sein. Außerdem sollten die dünnen Kohlenstoffketten extrem gut Strom leiten. Eigenschaften, die sie eines Tages sogar für technische Anwendungen interessant machen könnten. Angel Rubio:
"Carbin könnte neue Möglichkeiten für die Nanoelektronik bieten, schließlich dürfte es überaus leitfähig sein. Und vielleicht könnte es wegen seiner mechanischen Eigenschaften auch für extrem widerstandsfähige Kleidung interessant sein oder sogar für künstliche Muskeln."
Und vielleicht läuft es beim Carbin wie bei den Fullerenen, den Nanoröhrchen und beim Graphen: Kaum ist eine neue Kohlenstoffvariante entdeckt, beginnen Scharen von Physikern und Ingenieuren an den Ideen für lukrative Zukunftstechniken zu tüfteln.