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Mehr als eine gewöhnliche Pubertätskrise

In ihrem Spielfilm "Lollipop Monster" erzählt Ziska Riemann von Teenager-Angst und dysfunktionalen Familien. Die Ehrlichkeit des Films, sein Stilwille und offener Ästhetizismus überzeugen jederzeit und machen die Stärke dieses Werks aus.

Von Rüdiger Suchsland | 21.08.2011
    Ein Musikvideo im Fernsehen zeigt einen finstren Mann mit Zylinder auf einer Varieté-Bühne. Er singt vom "tiefen Dickicht der Städte", von gebleckten Zähnen und dunkler Nacht, von Gefühlen, die sich nach Widerhall sehnen. Eine seltsame, boshafte und doppeldeutige Ausstrahlung, die man dämonisch nennen mag, geht von diesem kleinen Video aus. Oona und Ari, die beiden circa 15-jährigen Mädchen im Zentrum von "Lollipop Monster", sehen beide diesen Film, und das verbindet sie, die sich noch nicht kennen, schon gleich zu Beginn.

    Dabei sind sie denkbar verschieden, auf den ersten Blick jedenfalls. Ari lebt im kleinen Vorstadthäuschen ihrer Eltern mit wohlgepflegtem Garten in einer kunterbunten, pink getönten, von Eskapismus dominierten Welt. Eine Mischung aus Barbie-Puppenstube und Pippi-Langstrumpf-Anarchismus.

    Oona dagegen trägt Black-Metal-Schminke und Klamotten und hört gern Dark-Wave-Musik. Schwarz hat sie auch ihr Zimmer gestrichen. Der Vater ist erfolgloser Künstler.

    Als Oona eines Abends ein Geheimnis der Mutter entdeckt, erzählt sie es dem geliebten Papa sofort:

    "Mama fickt mit Onkel Lukas im Auto."

    Mit schlimmen Folgen: An einem der nächsten Morgen hängt der Vater vor ihrer Schule tot am Baum. Bald darauf begegnen sich Oona und Ari und erkennen sich: Zwei Mädchen voll innerer Verlorenheit, die in ihrer Not nirgendwo Hilfe zu finden scheinen, und so versuchen, sich selbst zu helfen.

    Es ist also mehr als eine gewöhnliche Pubertätskrise, mit der man es hier zu tun hat. Überhaupt kommt man nicht sehr weit, wenn man versucht, Figuren und Handlung von "Lollipop Monster" mit sozialpädagogischen oder therapeutischen Begriffen zu erfassen.

    Von Anfang an ist die Story, sind Atmosphären und Ästhetik märchenhaft, und wie in vielen Märchen geht es grausam zu. Es werden Abgründe aufgerissen, es geht hinein in die Welt von Traum und Fantasie. Nichts ist naturalistisch; die Objektwelt ist primär Ausdruck von Gefühlen und Befindlichkeiten: Mal überkandidelt knallbunt, mal rabenschwarz. Zwei-, dreimal haben die Mädchen für Sekunden gelbe Katzenaugen, wie man sie aus Vampirfilmen kennt. Unterbrochen wird die Handlung auch durch sinnhafte Musikvideo-Einlagen, Super-8-Passagen und kurze Animationen.

    Die Regisseurin Ziska Riemann, die bisher als Comiczeichnerin und Autorin Erfolg hatte, bekennt sich in ihrem Debüt offen zur Künstlichkeit der Darstellung, zur herausfordernden, weltverändernden Kraft der Fantasie. Nur so versteht man, was in den beiden Mädchen, von denen Riemann erzählt, vorgeht. Letztendlich fühlen sich beide fehl am Platz, und haben sich noch nicht gefunden. Die Suche danach wird hart: Die Mädchen entdecken ihre Sexualität und kämpfen zugleich mit Unsicherheit wie mit Schuldgefühlen. Alles, auch der Sex, wird hier zu einer Form der Autoaggression. Die Elternhäuser sind chaotisch und können nicht helfen.

    So ist dies nicht nur ein wilder Film, sondern auch eine große Freundschaftsgeschichte. Sehr weiblich in der Offenheit in der man miteinander weint und lacht und liebt und Spaß hat, aber es soll ja auch Jungs geben, die sich solche Freundschaften zumindest wünschen.

    "Lollipop Monster" hat stilistisch fraglos viele Vorbilder - Verweise auf "American Beauty" oder David Lynchs postmoderne Surrealismen führen zwar wenig weit, die Erinnerung an den japanischen Animationsfilm, Comics und vor allem Sofia Coppolas Vorstadtalbtraumfilm "The Virgin Suicides" dafür um so mehr. Ebenso sind Einflüsse aus Musikvideofilmen unübersehbar.

    Rieman erzählt überzeichnet, voll erkennbarer Lust am Skurrilen und Absurden. Vor allem aber erzählt sie souverän. Man wünscht dem deutschen Kino mehr solche mutigen Projekte, die über den Tellerrand der Fernsehästhetik hinausblickend Einflüsse anderer Film-Kulturen aufgreifen und überzeugend integrieren.

    Als Porträt von Teenager-Angst und dysfunktionalen Familien, vor allem der Sprachlosigkeit der Mittelklasse, unter der deren Kinder leiden, ist das sehr gelungen und anregend. Die Ehrlichkeit des Films, sein Stilwille und offener Ästhetizismus überzeugen jederzeit. Sie machen die Stärke dieses Werks aus und "Lollipop Monster" zu einem ungewöhnlichen, reizvollen und herausragenden Film.