Die Union hatte einen anderen Plan für den Start in das letzte Regierungsjahr dieser Wahlperiode. Rund zwölf Monate vor der Bundestagswahl sollte die schwarz-gelbe Regierungsmehrheit in dieser Woche ohne das schwere Gepäck unerledigter Aufgaben und offener Konflikte in die letzte Sitzungsperiode des Bundestages starten. Doch der Plan ist nicht aufgegangen.
"Da gibt es nach wie vor Diskussionsbedarf. Aber ich finde es gut, dass wir uns alle daran halten, jetzt in der Sommerpause nicht uns gegenseitig in Interviews und öffentlichen Stellungnahmen zu sagen, was passieren muss, sondern das machen wir dann in der Fraktionssitzung nach der Sommerpause. Und da haben wir auch mit dem Koalitionspartner zu sprechen. Also, ich sage Ihnen mal voraus, es wird zu einem guten Ergebnis geführt."
Der pflichtgemäße Optimismus kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass Volker Kauder, der Fraktionschef von CDU und CSU, morgen Nachmittag - bei der ersten regulären Fraktionssitzung nach der Sommerpause - eine von innerparteilichen Diskussionen schon wieder strapazierte Truppe in den schwarz-gelben Herbst führen wird. Und der Koalitionspartner, mit dem Kauder eigentlich demonstrieren wollte, dass man wenigstens am Ende noch mal ein paar Monate reibungslos regieren kann, ist im Selbstgespräch verfangen.
" Und ich sage Ihnen …"
… hatte Angela Merkel ihrer Partei noch vor Kurzem zugerufen – und dann erst einmal eine lange Pause gemacht:
"Wir haben einen Koalitionspartner, mit dem wir manchmal im Hader liegen und der mit uns manchmal im Hader liegt. Aber die beiden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen haben gezeigt: Alles, was da geschrieben wird, wie fixiert irgendwelche Wahlergebnisse sind, kann sich schnell wieder ändern."
Die FDP aber ist nach wie vor weit davon entfernt, sich aus dem Stimmungstief zu erheben und als kraftvoll-berechenbarer Koalitionspartner in die Vorrunden zum herannahenden Bundestagswahlkampf einzubiegen. In jüngsten Meinungsumfragen ist sie schon wieder unter die Fünf-Prozent-Marke gefallen. Erschöpft schleppt sich das Regierungsbündnis so in die letzten Monate der gemeinsamen Parlamentsarbeit, bevor die Politik vor der niedersächsischen Landtagswahl im Januar endgültig in den Wahlkampfmodus umschaltet. Der Vorrat an Gemeinsamkeiten ist erschöpft.
"Es ist richtig, wir haben das bisher mit unserem Koalitionspartner nicht zum Ergebnis führen können","
gesteht Volker Kauder mit Blick auf das spektakulärste und möglicherweise teuerste Beispiel schwarz-gelber Einigungsunfähigkeit: den Streit um die Vorratsdatenspeicherung. Nachdem es selbst der Kanzlerin nicht gelungen ist, die sich hartnäckig widersetzende Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in die Kabinettsdisziplin zu zwingen, wird Deutschland mittlerweile von der EU-Kommission wegen Nichtumsetzung einer EU-Richtlinie verklagt. Es drohen Strafzahlungen in Millionenhöhe.
""Wenn bestimmte Dinge nicht gehen, muss man sagen okay. Dann muss man es auch öffentlich sagen. Wir werden sicher nach der Sommerpause darüber noch einmal reden."
Intern aber ist das Thema längst abgehakt. Streitfälle wie die Auseinandersetzung um die Vorratsdatenspeicherung stehen bei den schwarz-gelben Parteistrategen längst auf einer immer länger werdenden Liste von Themen, mit denen sich Union und FDP in den kommenden Wahlkämpfen ganz bewusst gegeneinander profilieren wollen. In den vergangenen Wochen sind weitere Themen hinzugekommen: Streit um Ursula von der Leyens Zuschussrente, Streit um das Ehegattensplitting für gleichgeschlechtliche Lebenspartner, Uneinigkeit über das Betreuungsgeld. Aus Sicht der Union ist diese Konfliktagenda allerdings in doppelter Hinsicht problematisch: Sie markiert nicht nur die Distanz zum Koalitionspartner, sondern zudem innerparteiliche Gräben, die sich auch quer durch die Reihen der Unionsfraktion im Bundestag ziehen.
"Da gab es einen Brief, der im Hinblick auf eine konkrete Ausgestaltung Fragen angemeldet hat","
weiß CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe mit Blick auf den Streit um das Betreuungsgeld. 24 Unionsabgeordnete hatten im Frühsommer nicht nur Fragen aufgeworfen, sondern offen die Ablehnung der auf Drängen der CSU ausgehandelten Betreuungsgeldpläne angekündigt. Ähnlich hatten weitere CDU-Abgeordnete kürzlich mit einem ebenfalls offenen Schreiben für Aufsehen und innerkoalitionären Zwist gesorgt, in dem sie eine Gleichstellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Einkommensteuerrecht verlangten. Und auch Ursula von der Leyens Rentenpläne legen in diesen Tagen tief greifende Differenzen innerhalb der Union offen:
""Da behaupte noch einer, wir seien keine lebendig diskutierende Fraktion","
lacht Volker Kauder die Probleme weg. Doch: Eine Lobby für Schwule und Lesben im Zentrum der christlich-konservativen Volksparteien, interner Dissens über zentrale sozial- und familienpolitische Fragen – das wirft immer wieder auch die Frage nach der programmatischen Identität der Union auf.
""Ich habe unzählige Telefonate in den letzten Tagen und Wochen geführt mit – ich sage mal – einfachen, gewöhnlichen Mitgliedern, die seit Jahren und Jahrzehnten dabei sind teilweise, die einfach verunsichert sind, die sich nicht mehr wahrgenommen fühlen und die teilweise auch fragen: Ja, wo sind denn unsere Themen, unsere Positionen?"
Wenn Angela Merkel mit Vertretern der Parteibasis zusammentrifft, wird der CDU-Vorsitzenden regelmäßig vor Augen geführt, wie sehr gerade die letzten Jahre der schwarz-gelben Koalition die Partei insgesamt strapaziert haben. Ende der Wehrpflicht, Atomausstieg, schwarz-gelbes Hin und Her in der Steuerpolitik, Kompromisse mit der Opposition in der Europapolitik. Es ist schwer geworden zu erklären, wofür die CDU unverbrüchlich steht, wo sich ein Identitätskern der Partei in praktischer Politik manifestiert. Aktive Christdemokraten, die in diesen Tagen in den Kreisverbänden über die CDU-Kandidaten bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr entscheiden, fragen unruhig, wofür ihre Partei dann inhaltlich stehen soll:
"Ich nehme wahr, dass die Basis ein Stück weit rumort. Aber es gibt auch ne große Sorge, was diese strukturelle Frage angeht nach der Mehrheitsfähigkeit der Union eben als Volkspartei, als einzig wirklich verbliebene Volkspartei reüssieren zu können.
Nur leider dringen wir damit oftmals vor Ort nicht durch. Wir kommen aus der Rückhand nicht in die so notwendige Vorderhand. Und ich glaube, es hat weniger etwas mit unserem Menschenbild zu tun, mit Personalität, Subsidiarität – und all den Dingen, die wir beschwören wie Soziale Marktwirtschaft, Solidarität – sondern, damit, dass die sich nicht in Haltungen umsetzen und erkennbar werden bei uns. Die Grundwerte sind zukunftsfest, sie sind bestechend, nur leider kann man sie zu selten bei unserem Führungspersonal ablesen."
Die unerfüllbare Sehnsucht nach den Zeiten, in denen die CDU sich noch unumwunden als konservative Kraft verstehen konnte, die in der Familienpolitik oder in Fragen der inneren Sicherheit markante Orientierungspunkte fand, plagt die Union wie ein Phantomschmerz wider besseren Wissens. Denn der strukturelle und programmatische Konservatismus der alten Bundesrepublik ist für die CDU auch innerparteilich verloren und nicht mehr rekonstruierbar. Der Versuch einer Gruppe von CDU-Politikern um den baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten Thomas Dörflinger, den hessischen Fraktionschef Christean Wagener und den Vorsitzenden des Bundestagsinnenausschusses, Wolfgang Bosbach, den Begriff des Konservativen in einem Manifest neu aufzuladen, ist in der Hitze des Sommers kläglich versandet. Die öffentliche Vorstellung des Dokuments in Berlin musste kurzfristig abgesagt werden. Die Autoren hatten sich auch nach monatelangen Vorgesprächen noch nicht darüber verständigen können, was Konservatismus im 21. Jahrhundert noch bedeuten könnte. So wurden die zaghaften Ansätze zu einer innerparteilichen Selbstbesinnung im Spätsommer vom Auftritt einer grellen Widergängerin aus der Kohl-Ära überlagert:
"Die Leute sagen: Ich hab die Faust in der Tasche. So! Und ich sage: Nimm die Faust aus der Tasche! Weil: Dann wirst du den gerechten Zorn entwickeln können, den man entwickelt, wenn die kostbarsten Spielregeln unserer Verfassung gebrochen werden."
Die einstige Literaturwissenschaftlerin Gertrud Höhler – selbst langjähriges CDU-Mitglied - hatte sich in einer breit angelegten Medienkampagne zur Rächerin einer programmatisch entkernten Partei und ihrer Klientel gemacht. Die Ostdeutsche Angela Merkel, so lautete der höchstpersönlich zugespitzte Vorwurf, habe die Werte der CDU aufgegeben und dem Prinzip eines Machterhalts um jeden Preis untergeordnet.
"Sie bringt eine Wertneutralität mit, eine Leidenschaftslosigkeit, die vielen Westbürgern fremd war."
Der Pragmatismus, den Kritiker wie Höhler der CDU-Vorsitzenden vorwerfen, ist indes aus Sicht Angela Merkels die notwendige Folge eines fundamentalen Wandels von Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert.
"Und dann stehen wir alle – ich glaube vor dem Thema stehen auch die Sozialdemokraten - die Volksparteien stehen heute vor dem Thema: Wie spreche ich eigentlich alle Gruppen der Bevölkerung an? Jüngere, Ältere, Intellektuelle, Facharbeiter, Männer, Frauen, und gleichzeitig habe ich eine einheitliche Meinung."
Das Bild der Gesellschaft, das Merkel mit ihrer Vorstellung einer modernen Volkspartei spiegeln möchte, zeigt einen immer loseren Zusammenhang heterogener Gruppen und unabhängiger Individuen. Religiöse Identitäten, bürgerliche Verhaltensnormen, familiäre Strukturen und soziale Zusammenhänge haben dramatisch an Bindungs- und Orientierungskraft verloren. Politik lässt sich vor diesem Hintergrund nicht mehr durch unverrückbare Positionierungen und klare Polarisierungen gestalten. Die CDU-Vorsitzende verlangt deswegen auch ihrer Partei ein neues Selbstverständnis ab:
"Es wird nicht mehr so sein, dass sich der ganze Ortsverband für ein und dieselbe Sache interessiert. Der eine ist mehr für Energiepolitik, der andere ist für Familienpolitik. Das heißt, das wird tief greifende Auswirkungen auch auf unsere Parteiarbeit haben. Und das muss man sich jetzt auch anschauen: Wie spreche ich so unterschiedliche Gruppen an und bin trotzdem eine Partei?"
Was Merkel im Sommer auf einer Tagung der CDU-Kreisvorsitzenden in der Berliner Parteizentrale als bunte Vielfalt unterschiedlicher Interessen der Basis schildert, bedeutet für die Parteiführung die Herausforderung, immer weiter divergierende Positionen unter einen Hut zu bringen. Keine andere Partei aber hat genau damit so viel Erfahrung wie die CDU, die sich bei ihrer Gründung ganz bewusst nicht als Partei bezeichnet hat. Das Unionsprinzip benennt vielmehr den Anspruch, bis dahin als politisch unvereinbar geltende Gruppen der Gesellschaft in einem gemeinsamen Willensbildungsprozess zu vereinen: Katholiken und Protestanten, Arbeiter und Unternehmer, liberale Marktbefürworter und Herz-Jesu-Marxisten sollten in den verschiedenen Flügeln und sozialen Unterverbänden der CDU ihre politische Heimat finden. Die Frage nach einer trennscharf definierten Parteiidentität hat sich für die Christlich Demokratische Union deshalb nie mit der gleichen Dringlichkeit gestellt wie für andere Parteien, die ihre Wurzeln in homogeneren Sozialmilieus wie der Arbeiterschaft oder bestimmten politischen Denkrichtungen, wie dem Liberalismus hatten bzw. haben.
Was Kritiker der Union als Orientierungsverlust und parteipolitische Beliebigkeit anklagen, ist für die spät geborene Merkel der Versuch, eine Traditionslinie der Adenauer’schen Union in das 21. Jahrhundert fortzuschreiben. Je mehr das C im Namen der Partei als Verweis auf ihre Ursprünge im christlichen Konservatismus an Orientierungskraft verliert, desto mehr gewinnt das U als Bezeichnung eines Politikmodells an Bedeutung, das auf die Herstellung von Einheit in Vielfalt ausgerichtet ist.
"Wir müssen vielfältig auftreten, weil die Interessen der Menschen heute auch sehr vielfältig geworden sind."
Die stärksten Bindungskräfte in der CDU haben stets die Leitfiguren an ihrer Spitze erzeugt. Die sozialdemokratischen Kanzler – vor allem Schmidt und Schröder - haben immer auch innerparteiliche Brüche und Verwerfungen in der SPD provoziert. Die CDU dagegen hat sich stets bereitwillig als Kanzlerwahlverein hinter Führungsfiguren wie Adenauer, Kohl und nun auch Merkel versammelt - solange diese hinreichenden Wahlerfolg versprachen. Nach acht Jahren erschöpfender Regierungsarbeit wird die CDU sich im kommenden Wahlkampf nicht zuletzt wegen ihrer programmatischen Ermattung ganz allein auf die persönliche Strahlkraft der Kanzlerin verlassen:
"Die herausragende Unterstützung, die die Politik von Angela Merkel erfährt, ist natürlich ein Pfund, mit dem wir auch im Wahlkampf punkten wollen","
erklärt CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe, der in den kommenden Wochen und Monaten die Wahlkampfstrategie der Partei ausarbeiten wird. Diese wird nur ein Motiv kennen: Angela Merkel. Auch die Bundeskanzlerin indes hat das Leitmotiv bereits formuliert, das ihren Wahlkampf prägen wird.
""Mehr Europa! Das ist die Parole, das ist die Überzeugung der Christlich Demokratischen Union."
Die Zukunft Deutschlands in Europa wird das überragende Thema des kommenden Bundestagswahlkampfes sein. Mehr als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik werden klassische innenpolitische Themen nationaler Wahlkämpfe – Sozialpolitik, innere Sicherheit, Bildung – ganz im Zeichen der Unsicherheit über die Entwicklung des Euros und des europäischen Einigungsprojekts stehen. Doch die Ankündigung, mit der Forderung nach "mehr Europa" in den Wahlkampf zu ziehen, ist gerade in diesen Zeiten für die Christdemokraten ein politisch ambivalentes Wagnis. Volker Kauder hat die Sommerpause genutzt, um Tuchfühlung mit der Parteibasis aufzunehmen. Und was der Fraktionsvorsitzende in seinem baden-württembergischen Wahlkreis zwischen Tuttlingen und Rottweil erspürte, unterscheidet sich nicht von dem, was Abgeordnete aller Fraktionen dieser Tage an Stimmungsberichten aus der Heimat nach Berlin zurückmelden.
"Die Menschen machen sich Gedanken, und sie haben auch Sorgen. Die Frage, wie geht es weiter, was soll ich mit meinem Ersparten machen, wird meine Kapitalanlage für die Altersversorgung dann auch ausreichen, die Fragen kommen."
Kauder und die Unionsspitze setzen darauf, dass die Partei sich im kommenden Wahlkampf auf ihre in die Zeiten Adenauers und Kohls zurückreichende Tradition als Pro-Europa-Partei besinnen wird. Was ist auch die Alternative? Für nationalpatriotische Sehnsüchte jedenfalls gibt es in der CDU heute kaum noch Resonanzräume. Ganz anders ist das in der bayerischen Schwesterpartei. Die CSU bereitet sich auf eine Landtagswahl vor, bei der es für sie zwei Wochen vor der Bundestagswahl darum gehen wird, die absolute Mehrheit im Freistaat zurückzuerobern. Horst Seehofer muss sich dabei auch gegen den europakritischen Populismus der Freien Wähler als der bessere Wahrer bayerischer Partikularinteressen profilieren:
"Es gilt hier immer noch der Grundsatz: Mir san mir. Und was wir in Bayern und Altötting machen, bestimmen mir und net Berlin und Brüssel. Was immer uns in Bayern bewegt, wenn es darum geht, in Berlin etwas durchzusetzen, dann kommt zuallererst Bayern. Da kenne ich keine Parteien, da kenne ich nichts. Dann kommt zu allererst Bayern."
Lässt sich unter diesen Umständen echte Europabegeisterung unter den Unionsanhängern entfachen? Oder werden sie nur aus höchstpersönlicher Loyalität oder gar politischer Abhängigkeit dem Ruf der Kanzlerin nach "mehr Europa" folgen? Wenn Angela Merkel auf Parteiforen, Bürgerveranstaltungen oder in Regierungserklärungen jenseits der Diskussionen um das akute Eurorettungsmanagement begründen muss, warum sie die Zukunft Deutschlands in einem enger zusammenwachsenden Europa sieht, ist von ihr immer wieder ein Motiv zu hören, das sie in unterschiedlichen Wortwendungen vermittelt. Es geht um die Frage, wie Deutschland den in der alten, westdeutschen Bundesrepublik gewachsenen Lebensstandard unter den Bedingungen des globalen Wettbewerbs halten kann:
"Das ist genau die Kernfrage, die mich umtreibt, wenn ich mich frage: Wovon wollen wir eigentlich dann später mal leben? Stellen Sie sich mal vor, die Chinesen können eines Tages so gute Autos bauen wie wir. Dann werden die nicht mehr bei uns gebaut, sondern in China. Und was wollen wir dann noch können? Gentechnologie haben wir keine Lust drauf. Wir sind ja auch sehr wählerisch, was wir eigentlich gerne machen. Das brauchen wir nicht und das brauchen wir nicht. Tja, wenn man zum Schluss nichts mehr hat, hat man auch nichts mehr, wovon man arbeiten kann.
(…)
Und das Allerwichtigste ist: Man muss vor allen Dingen auch wettbewerbsfähig produzieren können. In der Welt hat sich viel verändert. Wir sind heute sieben Milliarden Menschen. Zu Zeiten von Konrad Adenauer waren es 2,5 Milliarden auf der Welt. Diese sieben Milliarden Menschen wollen alle essen, sie wollen alle erfolgreich sein, sie wollen alle einen guten Lebensstandart haben.
(…)
Die Welt ist hart, und die großen Märkte sind in China und Indien. Das heißt, ihre Generation hat da mehr Aufgaben zu bewältigen als die vorherige. Alle Ängste kann ich nicht nehmen. Ich kann nur sagen: Wir arbeiten daran, dass Sie Vertrauen in die Zukunft haben können. Ich würde Ihnen empfehlen: Lernen Sie immer weiter. Seien Sie vielfältig. Und – keine Angst vorm Umzug."
Im Gespräch mit jungen Leuten macht Merkel deutlich, dass sich die Botschaft in unterschiedlicher Weise intonieren lässt: entweder als motivierende Aufmunterung oder als Furcht einflößendes Angstbild:
"Jetzt kann ich das als eine Bedrohung empfinden und sagen, 'mein lieber Vater, das ist ja schrecklich, und wie schön war das früher'. Ich kann aber auch sagen:"'Mann, hab ich eine Chance. Wenn ich gut ausgebildet bin, werde ich es schon schaffen.'"
In welcher Tonlage Merkel ihren Wahlkampf führen wird, werden die Kanzlerin und ihre Parteistrategen erst im nächsten Frühjahr festlegen. Sind Konjunkturdaten und Arbeitslosenzahlen dann für Deutschland so gut wie bis in diesen Sommer hinein, werden sie vor allem auf positiv gestimmte Selbstbestätigung setzen. Verschlechtern sich aber die zuletzt bereits eingetrübten Aussichten weiter, wird man die Bedrohungsszenarien schärfer herausarbeiten. Wer sich nicht für Europa entscheidet, den holen die Chinesen, wird dann als Subtext in allen Wahlkampfbotschaften der Union mitklingen.
Und noch ein Datum wird mit darüber entscheiden, wie scharf die CDU ihren Wahlkampf für "mehr Europa" akzentuiert: der kommenden Mittwoch, an dem das Bundesverfassungsgericht die Spielräume für eine weitere Vertiefung der Europäischen Union definiert. Selbst wenn die Karlsruher Richter dann grünes Licht für die Ratifizierung des ESM geben, könnten sie der Politik eine Debatte über eine Generalreform des Grundgesetzes einschließlich einer Volksabstimmung über die künftige Verfassung Deutschlands und Europas aufzwingen. Schon jetzt machen sich führende Unionspolitiker wie Wolfgang Schäuble und Volker Kauder Gedanken über eine Neukonstruktion parlamentarischer Mitspracherechte in Berlin, Brüssel und Straßburg. Ähnlich wie in der SPD wird auch in der Union – noch vorsichtig und zurückhaltend – über ein Referendum darüber nachgedacht. Hinter vorgehaltener Hand lässt man in Unionskreisen auch kaum noch einen Zweifel daran, dass der große europapolitische Wurf wohl am ehesten in einer großen Koalition mit der SPD gelingen würde. Schon jetzt regiert die Kanzlerin schließlich in der Europapolitik als Chef einer koalitionsübergreifenden Allparteienregierung. Für Merkel geht es in einer dritten Wahlperiode darum, ob sie dann aus der Rolle der Krisenmanagerin herauswachsen und als Baumeisterin einer neuen Verfassungsarchitektur Europas in die Geschichte eingehen kann.
"Da gibt es nach wie vor Diskussionsbedarf. Aber ich finde es gut, dass wir uns alle daran halten, jetzt in der Sommerpause nicht uns gegenseitig in Interviews und öffentlichen Stellungnahmen zu sagen, was passieren muss, sondern das machen wir dann in der Fraktionssitzung nach der Sommerpause. Und da haben wir auch mit dem Koalitionspartner zu sprechen. Also, ich sage Ihnen mal voraus, es wird zu einem guten Ergebnis geführt."
Der pflichtgemäße Optimismus kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass Volker Kauder, der Fraktionschef von CDU und CSU, morgen Nachmittag - bei der ersten regulären Fraktionssitzung nach der Sommerpause - eine von innerparteilichen Diskussionen schon wieder strapazierte Truppe in den schwarz-gelben Herbst führen wird. Und der Koalitionspartner, mit dem Kauder eigentlich demonstrieren wollte, dass man wenigstens am Ende noch mal ein paar Monate reibungslos regieren kann, ist im Selbstgespräch verfangen.
" Und ich sage Ihnen …"
… hatte Angela Merkel ihrer Partei noch vor Kurzem zugerufen – und dann erst einmal eine lange Pause gemacht:
"Wir haben einen Koalitionspartner, mit dem wir manchmal im Hader liegen und der mit uns manchmal im Hader liegt. Aber die beiden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen haben gezeigt: Alles, was da geschrieben wird, wie fixiert irgendwelche Wahlergebnisse sind, kann sich schnell wieder ändern."
Die FDP aber ist nach wie vor weit davon entfernt, sich aus dem Stimmungstief zu erheben und als kraftvoll-berechenbarer Koalitionspartner in die Vorrunden zum herannahenden Bundestagswahlkampf einzubiegen. In jüngsten Meinungsumfragen ist sie schon wieder unter die Fünf-Prozent-Marke gefallen. Erschöpft schleppt sich das Regierungsbündnis so in die letzten Monate der gemeinsamen Parlamentsarbeit, bevor die Politik vor der niedersächsischen Landtagswahl im Januar endgültig in den Wahlkampfmodus umschaltet. Der Vorrat an Gemeinsamkeiten ist erschöpft.
"Es ist richtig, wir haben das bisher mit unserem Koalitionspartner nicht zum Ergebnis führen können","
gesteht Volker Kauder mit Blick auf das spektakulärste und möglicherweise teuerste Beispiel schwarz-gelber Einigungsunfähigkeit: den Streit um die Vorratsdatenspeicherung. Nachdem es selbst der Kanzlerin nicht gelungen ist, die sich hartnäckig widersetzende Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in die Kabinettsdisziplin zu zwingen, wird Deutschland mittlerweile von der EU-Kommission wegen Nichtumsetzung einer EU-Richtlinie verklagt. Es drohen Strafzahlungen in Millionenhöhe.
""Wenn bestimmte Dinge nicht gehen, muss man sagen okay. Dann muss man es auch öffentlich sagen. Wir werden sicher nach der Sommerpause darüber noch einmal reden."
Intern aber ist das Thema längst abgehakt. Streitfälle wie die Auseinandersetzung um die Vorratsdatenspeicherung stehen bei den schwarz-gelben Parteistrategen längst auf einer immer länger werdenden Liste von Themen, mit denen sich Union und FDP in den kommenden Wahlkämpfen ganz bewusst gegeneinander profilieren wollen. In den vergangenen Wochen sind weitere Themen hinzugekommen: Streit um Ursula von der Leyens Zuschussrente, Streit um das Ehegattensplitting für gleichgeschlechtliche Lebenspartner, Uneinigkeit über das Betreuungsgeld. Aus Sicht der Union ist diese Konfliktagenda allerdings in doppelter Hinsicht problematisch: Sie markiert nicht nur die Distanz zum Koalitionspartner, sondern zudem innerparteiliche Gräben, die sich auch quer durch die Reihen der Unionsfraktion im Bundestag ziehen.
"Da gab es einen Brief, der im Hinblick auf eine konkrete Ausgestaltung Fragen angemeldet hat","
weiß CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe mit Blick auf den Streit um das Betreuungsgeld. 24 Unionsabgeordnete hatten im Frühsommer nicht nur Fragen aufgeworfen, sondern offen die Ablehnung der auf Drängen der CSU ausgehandelten Betreuungsgeldpläne angekündigt. Ähnlich hatten weitere CDU-Abgeordnete kürzlich mit einem ebenfalls offenen Schreiben für Aufsehen und innerkoalitionären Zwist gesorgt, in dem sie eine Gleichstellung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft im Einkommensteuerrecht verlangten. Und auch Ursula von der Leyens Rentenpläne legen in diesen Tagen tief greifende Differenzen innerhalb der Union offen:
""Da behaupte noch einer, wir seien keine lebendig diskutierende Fraktion","
lacht Volker Kauder die Probleme weg. Doch: Eine Lobby für Schwule und Lesben im Zentrum der christlich-konservativen Volksparteien, interner Dissens über zentrale sozial- und familienpolitische Fragen – das wirft immer wieder auch die Frage nach der programmatischen Identität der Union auf.
""Ich habe unzählige Telefonate in den letzten Tagen und Wochen geführt mit – ich sage mal – einfachen, gewöhnlichen Mitgliedern, die seit Jahren und Jahrzehnten dabei sind teilweise, die einfach verunsichert sind, die sich nicht mehr wahrgenommen fühlen und die teilweise auch fragen: Ja, wo sind denn unsere Themen, unsere Positionen?"
Wenn Angela Merkel mit Vertretern der Parteibasis zusammentrifft, wird der CDU-Vorsitzenden regelmäßig vor Augen geführt, wie sehr gerade die letzten Jahre der schwarz-gelben Koalition die Partei insgesamt strapaziert haben. Ende der Wehrpflicht, Atomausstieg, schwarz-gelbes Hin und Her in der Steuerpolitik, Kompromisse mit der Opposition in der Europapolitik. Es ist schwer geworden zu erklären, wofür die CDU unverbrüchlich steht, wo sich ein Identitätskern der Partei in praktischer Politik manifestiert. Aktive Christdemokraten, die in diesen Tagen in den Kreisverbänden über die CDU-Kandidaten bei der Bundestagswahl im nächsten Jahr entscheiden, fragen unruhig, wofür ihre Partei dann inhaltlich stehen soll:
"Ich nehme wahr, dass die Basis ein Stück weit rumort. Aber es gibt auch ne große Sorge, was diese strukturelle Frage angeht nach der Mehrheitsfähigkeit der Union eben als Volkspartei, als einzig wirklich verbliebene Volkspartei reüssieren zu können.
Nur leider dringen wir damit oftmals vor Ort nicht durch. Wir kommen aus der Rückhand nicht in die so notwendige Vorderhand. Und ich glaube, es hat weniger etwas mit unserem Menschenbild zu tun, mit Personalität, Subsidiarität – und all den Dingen, die wir beschwören wie Soziale Marktwirtschaft, Solidarität – sondern, damit, dass die sich nicht in Haltungen umsetzen und erkennbar werden bei uns. Die Grundwerte sind zukunftsfest, sie sind bestechend, nur leider kann man sie zu selten bei unserem Führungspersonal ablesen."
Die unerfüllbare Sehnsucht nach den Zeiten, in denen die CDU sich noch unumwunden als konservative Kraft verstehen konnte, die in der Familienpolitik oder in Fragen der inneren Sicherheit markante Orientierungspunkte fand, plagt die Union wie ein Phantomschmerz wider besseren Wissens. Denn der strukturelle und programmatische Konservatismus der alten Bundesrepublik ist für die CDU auch innerparteilich verloren und nicht mehr rekonstruierbar. Der Versuch einer Gruppe von CDU-Politikern um den baden-württembergischen Bundestagsabgeordneten Thomas Dörflinger, den hessischen Fraktionschef Christean Wagener und den Vorsitzenden des Bundestagsinnenausschusses, Wolfgang Bosbach, den Begriff des Konservativen in einem Manifest neu aufzuladen, ist in der Hitze des Sommers kläglich versandet. Die öffentliche Vorstellung des Dokuments in Berlin musste kurzfristig abgesagt werden. Die Autoren hatten sich auch nach monatelangen Vorgesprächen noch nicht darüber verständigen können, was Konservatismus im 21. Jahrhundert noch bedeuten könnte. So wurden die zaghaften Ansätze zu einer innerparteilichen Selbstbesinnung im Spätsommer vom Auftritt einer grellen Widergängerin aus der Kohl-Ära überlagert:
"Die Leute sagen: Ich hab die Faust in der Tasche. So! Und ich sage: Nimm die Faust aus der Tasche! Weil: Dann wirst du den gerechten Zorn entwickeln können, den man entwickelt, wenn die kostbarsten Spielregeln unserer Verfassung gebrochen werden."
Die einstige Literaturwissenschaftlerin Gertrud Höhler – selbst langjähriges CDU-Mitglied - hatte sich in einer breit angelegten Medienkampagne zur Rächerin einer programmatisch entkernten Partei und ihrer Klientel gemacht. Die Ostdeutsche Angela Merkel, so lautete der höchstpersönlich zugespitzte Vorwurf, habe die Werte der CDU aufgegeben und dem Prinzip eines Machterhalts um jeden Preis untergeordnet.
"Sie bringt eine Wertneutralität mit, eine Leidenschaftslosigkeit, die vielen Westbürgern fremd war."
Der Pragmatismus, den Kritiker wie Höhler der CDU-Vorsitzenden vorwerfen, ist indes aus Sicht Angela Merkels die notwendige Folge eines fundamentalen Wandels von Politik und Gesellschaft im 21. Jahrhundert.
"Und dann stehen wir alle – ich glaube vor dem Thema stehen auch die Sozialdemokraten - die Volksparteien stehen heute vor dem Thema: Wie spreche ich eigentlich alle Gruppen der Bevölkerung an? Jüngere, Ältere, Intellektuelle, Facharbeiter, Männer, Frauen, und gleichzeitig habe ich eine einheitliche Meinung."
Das Bild der Gesellschaft, das Merkel mit ihrer Vorstellung einer modernen Volkspartei spiegeln möchte, zeigt einen immer loseren Zusammenhang heterogener Gruppen und unabhängiger Individuen. Religiöse Identitäten, bürgerliche Verhaltensnormen, familiäre Strukturen und soziale Zusammenhänge haben dramatisch an Bindungs- und Orientierungskraft verloren. Politik lässt sich vor diesem Hintergrund nicht mehr durch unverrückbare Positionierungen und klare Polarisierungen gestalten. Die CDU-Vorsitzende verlangt deswegen auch ihrer Partei ein neues Selbstverständnis ab:
"Es wird nicht mehr so sein, dass sich der ganze Ortsverband für ein und dieselbe Sache interessiert. Der eine ist mehr für Energiepolitik, der andere ist für Familienpolitik. Das heißt, das wird tief greifende Auswirkungen auch auf unsere Parteiarbeit haben. Und das muss man sich jetzt auch anschauen: Wie spreche ich so unterschiedliche Gruppen an und bin trotzdem eine Partei?"
Was Merkel im Sommer auf einer Tagung der CDU-Kreisvorsitzenden in der Berliner Parteizentrale als bunte Vielfalt unterschiedlicher Interessen der Basis schildert, bedeutet für die Parteiführung die Herausforderung, immer weiter divergierende Positionen unter einen Hut zu bringen. Keine andere Partei aber hat genau damit so viel Erfahrung wie die CDU, die sich bei ihrer Gründung ganz bewusst nicht als Partei bezeichnet hat. Das Unionsprinzip benennt vielmehr den Anspruch, bis dahin als politisch unvereinbar geltende Gruppen der Gesellschaft in einem gemeinsamen Willensbildungsprozess zu vereinen: Katholiken und Protestanten, Arbeiter und Unternehmer, liberale Marktbefürworter und Herz-Jesu-Marxisten sollten in den verschiedenen Flügeln und sozialen Unterverbänden der CDU ihre politische Heimat finden. Die Frage nach einer trennscharf definierten Parteiidentität hat sich für die Christlich Demokratische Union deshalb nie mit der gleichen Dringlichkeit gestellt wie für andere Parteien, die ihre Wurzeln in homogeneren Sozialmilieus wie der Arbeiterschaft oder bestimmten politischen Denkrichtungen, wie dem Liberalismus hatten bzw. haben.
Was Kritiker der Union als Orientierungsverlust und parteipolitische Beliebigkeit anklagen, ist für die spät geborene Merkel der Versuch, eine Traditionslinie der Adenauer’schen Union in das 21. Jahrhundert fortzuschreiben. Je mehr das C im Namen der Partei als Verweis auf ihre Ursprünge im christlichen Konservatismus an Orientierungskraft verliert, desto mehr gewinnt das U als Bezeichnung eines Politikmodells an Bedeutung, das auf die Herstellung von Einheit in Vielfalt ausgerichtet ist.
"Wir müssen vielfältig auftreten, weil die Interessen der Menschen heute auch sehr vielfältig geworden sind."
Die stärksten Bindungskräfte in der CDU haben stets die Leitfiguren an ihrer Spitze erzeugt. Die sozialdemokratischen Kanzler – vor allem Schmidt und Schröder - haben immer auch innerparteiliche Brüche und Verwerfungen in der SPD provoziert. Die CDU dagegen hat sich stets bereitwillig als Kanzlerwahlverein hinter Führungsfiguren wie Adenauer, Kohl und nun auch Merkel versammelt - solange diese hinreichenden Wahlerfolg versprachen. Nach acht Jahren erschöpfender Regierungsarbeit wird die CDU sich im kommenden Wahlkampf nicht zuletzt wegen ihrer programmatischen Ermattung ganz allein auf die persönliche Strahlkraft der Kanzlerin verlassen:
"Die herausragende Unterstützung, die die Politik von Angela Merkel erfährt, ist natürlich ein Pfund, mit dem wir auch im Wahlkampf punkten wollen","
erklärt CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe, der in den kommenden Wochen und Monaten die Wahlkampfstrategie der Partei ausarbeiten wird. Diese wird nur ein Motiv kennen: Angela Merkel. Auch die Bundeskanzlerin indes hat das Leitmotiv bereits formuliert, das ihren Wahlkampf prägen wird.
""Mehr Europa! Das ist die Parole, das ist die Überzeugung der Christlich Demokratischen Union."
Die Zukunft Deutschlands in Europa wird das überragende Thema des kommenden Bundestagswahlkampfes sein. Mehr als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik werden klassische innenpolitische Themen nationaler Wahlkämpfe – Sozialpolitik, innere Sicherheit, Bildung – ganz im Zeichen der Unsicherheit über die Entwicklung des Euros und des europäischen Einigungsprojekts stehen. Doch die Ankündigung, mit der Forderung nach "mehr Europa" in den Wahlkampf zu ziehen, ist gerade in diesen Zeiten für die Christdemokraten ein politisch ambivalentes Wagnis. Volker Kauder hat die Sommerpause genutzt, um Tuchfühlung mit der Parteibasis aufzunehmen. Und was der Fraktionsvorsitzende in seinem baden-württembergischen Wahlkreis zwischen Tuttlingen und Rottweil erspürte, unterscheidet sich nicht von dem, was Abgeordnete aller Fraktionen dieser Tage an Stimmungsberichten aus der Heimat nach Berlin zurückmelden.
"Die Menschen machen sich Gedanken, und sie haben auch Sorgen. Die Frage, wie geht es weiter, was soll ich mit meinem Ersparten machen, wird meine Kapitalanlage für die Altersversorgung dann auch ausreichen, die Fragen kommen."
Kauder und die Unionsspitze setzen darauf, dass die Partei sich im kommenden Wahlkampf auf ihre in die Zeiten Adenauers und Kohls zurückreichende Tradition als Pro-Europa-Partei besinnen wird. Was ist auch die Alternative? Für nationalpatriotische Sehnsüchte jedenfalls gibt es in der CDU heute kaum noch Resonanzräume. Ganz anders ist das in der bayerischen Schwesterpartei. Die CSU bereitet sich auf eine Landtagswahl vor, bei der es für sie zwei Wochen vor der Bundestagswahl darum gehen wird, die absolute Mehrheit im Freistaat zurückzuerobern. Horst Seehofer muss sich dabei auch gegen den europakritischen Populismus der Freien Wähler als der bessere Wahrer bayerischer Partikularinteressen profilieren:
"Es gilt hier immer noch der Grundsatz: Mir san mir. Und was wir in Bayern und Altötting machen, bestimmen mir und net Berlin und Brüssel. Was immer uns in Bayern bewegt, wenn es darum geht, in Berlin etwas durchzusetzen, dann kommt zuallererst Bayern. Da kenne ich keine Parteien, da kenne ich nichts. Dann kommt zu allererst Bayern."
Lässt sich unter diesen Umständen echte Europabegeisterung unter den Unionsanhängern entfachen? Oder werden sie nur aus höchstpersönlicher Loyalität oder gar politischer Abhängigkeit dem Ruf der Kanzlerin nach "mehr Europa" folgen? Wenn Angela Merkel auf Parteiforen, Bürgerveranstaltungen oder in Regierungserklärungen jenseits der Diskussionen um das akute Eurorettungsmanagement begründen muss, warum sie die Zukunft Deutschlands in einem enger zusammenwachsenden Europa sieht, ist von ihr immer wieder ein Motiv zu hören, das sie in unterschiedlichen Wortwendungen vermittelt. Es geht um die Frage, wie Deutschland den in der alten, westdeutschen Bundesrepublik gewachsenen Lebensstandard unter den Bedingungen des globalen Wettbewerbs halten kann:
"Das ist genau die Kernfrage, die mich umtreibt, wenn ich mich frage: Wovon wollen wir eigentlich dann später mal leben? Stellen Sie sich mal vor, die Chinesen können eines Tages so gute Autos bauen wie wir. Dann werden die nicht mehr bei uns gebaut, sondern in China. Und was wollen wir dann noch können? Gentechnologie haben wir keine Lust drauf. Wir sind ja auch sehr wählerisch, was wir eigentlich gerne machen. Das brauchen wir nicht und das brauchen wir nicht. Tja, wenn man zum Schluss nichts mehr hat, hat man auch nichts mehr, wovon man arbeiten kann.
(…)
Und das Allerwichtigste ist: Man muss vor allen Dingen auch wettbewerbsfähig produzieren können. In der Welt hat sich viel verändert. Wir sind heute sieben Milliarden Menschen. Zu Zeiten von Konrad Adenauer waren es 2,5 Milliarden auf der Welt. Diese sieben Milliarden Menschen wollen alle essen, sie wollen alle erfolgreich sein, sie wollen alle einen guten Lebensstandart haben.
(…)
Die Welt ist hart, und die großen Märkte sind in China und Indien. Das heißt, ihre Generation hat da mehr Aufgaben zu bewältigen als die vorherige. Alle Ängste kann ich nicht nehmen. Ich kann nur sagen: Wir arbeiten daran, dass Sie Vertrauen in die Zukunft haben können. Ich würde Ihnen empfehlen: Lernen Sie immer weiter. Seien Sie vielfältig. Und – keine Angst vorm Umzug."
Im Gespräch mit jungen Leuten macht Merkel deutlich, dass sich die Botschaft in unterschiedlicher Weise intonieren lässt: entweder als motivierende Aufmunterung oder als Furcht einflößendes Angstbild:
"Jetzt kann ich das als eine Bedrohung empfinden und sagen, 'mein lieber Vater, das ist ja schrecklich, und wie schön war das früher'. Ich kann aber auch sagen:"'Mann, hab ich eine Chance. Wenn ich gut ausgebildet bin, werde ich es schon schaffen.'"
In welcher Tonlage Merkel ihren Wahlkampf führen wird, werden die Kanzlerin und ihre Parteistrategen erst im nächsten Frühjahr festlegen. Sind Konjunkturdaten und Arbeitslosenzahlen dann für Deutschland so gut wie bis in diesen Sommer hinein, werden sie vor allem auf positiv gestimmte Selbstbestätigung setzen. Verschlechtern sich aber die zuletzt bereits eingetrübten Aussichten weiter, wird man die Bedrohungsszenarien schärfer herausarbeiten. Wer sich nicht für Europa entscheidet, den holen die Chinesen, wird dann als Subtext in allen Wahlkampfbotschaften der Union mitklingen.
Und noch ein Datum wird mit darüber entscheiden, wie scharf die CDU ihren Wahlkampf für "mehr Europa" akzentuiert: der kommenden Mittwoch, an dem das Bundesverfassungsgericht die Spielräume für eine weitere Vertiefung der Europäischen Union definiert. Selbst wenn die Karlsruher Richter dann grünes Licht für die Ratifizierung des ESM geben, könnten sie der Politik eine Debatte über eine Generalreform des Grundgesetzes einschließlich einer Volksabstimmung über die künftige Verfassung Deutschlands und Europas aufzwingen. Schon jetzt machen sich führende Unionspolitiker wie Wolfgang Schäuble und Volker Kauder Gedanken über eine Neukonstruktion parlamentarischer Mitspracherechte in Berlin, Brüssel und Straßburg. Ähnlich wie in der SPD wird auch in der Union – noch vorsichtig und zurückhaltend – über ein Referendum darüber nachgedacht. Hinter vorgehaltener Hand lässt man in Unionskreisen auch kaum noch einen Zweifel daran, dass der große europapolitische Wurf wohl am ehesten in einer großen Koalition mit der SPD gelingen würde. Schon jetzt regiert die Kanzlerin schließlich in der Europapolitik als Chef einer koalitionsübergreifenden Allparteienregierung. Für Merkel geht es in einer dritten Wahlperiode darum, ob sie dann aus der Rolle der Krisenmanagerin herauswachsen und als Baumeisterin einer neuen Verfassungsarchitektur Europas in die Geschichte eingehen kann.