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Mehr Schein als Sein?

Russische Wissenschaftler zählten lange zu den besten der Welt. Mendelejev entdeckte das Periodensystem der Elemente, russische Raumfahrtingenieure schossen den ersten Satelliten ins All, und im Jahr 2000 erhielt der in St. Petersburg arbeitende Physiker Shores Alferov den Nobelpreis für seinen Beitrag zur Revolution der Mikroelektronik.

Von Ralf Krauter |
    Doch seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich die Arbeitsbedingungen für Forscher in Russland dramatisch verschlechtert. Aufgrund leerer Kassen hat die Regierung unter Präsident Putin im vergangenen Jahr nicht einmal mehr halb so viel in Forschung und Entwicklung investiert wie noch 1990. Wissenschaft in Russland - das heißt derzeit vor allem mit dem Mangel leben und sich irgendwie über Wasser halten. Selbst die klügsten Köpfe haben mit den widrigen Bedingungen zu kämpfen. Wer renommierte Forscher in St. Petersburg, Moskau und Nowosibirsk in ihren Labors besucht, hört immer wieder von denselben drei Problemen: Chronische Unterfinanzierung, verkrustete Strukturen und drohende Vergreisung des akademischen Personals.

    Die Strategien, mit denen sich die Wissenschaftler gegen den Abstieg in die zweite Liga der Forschung wehren, sind unterschiedlich, haben aber eines gemein: Das Geld für ihre Arbeit kommt in immer stärkerem Maße aus dem Ausland.


    " Das Hauptproblem ist die chronische Unterfinanzierung. Das andere: Die Vergreisung im wissenschaftlichen Sektor, das betrifft nicht nur die Akademie der Wissenschaften. "

    Wenn Forscher hierzulande über schlechte Bezahlung und veraltetes Laborgerät klagen, dann haben sie damit ja leider nicht selten recht. Aber verglichen mit den Wissenschaftlern in Russland jammern sie auf hohem Niveau.

    In der nächsten halben Stunde besuchen wir führende Wissenschaftler in St. Petersburg, Moskau und Nowosibirsk in ihren Labors. Wir sprechen mit Experten über den Niedergang des Forschungsstandortes Russland. Und wir schauen uns um auf dem Gelände der ehemals streng geheimen russischen Biowaffenschmiede Vector. Seien sie zu all dem herzlich willkommen. Am Mikrofon ist Ralf Krauter.

    Russische Wissenschaftler zählten lange zu den besten der Welt. Mendeljejev entdeckte das Periodensystem der Elemente, russische Raumfahrtingenieure schossen mit Sputnik den ersten Satelliten ins All, und im Jahr 2000 erhielt der in St. Petersburg arbeitende Physiker Shores Alferov den Nobelpreis für seinen Beitrag zur Revolution der Mikroelektronik.

    Doch seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich die Arbeitsbedingungen dramatisch verschlechtert. Aufgrund leerer Kassen hat die Regierung im vergangenen Jahr nicht einmal mehr halb soviel in Forschung und Entwicklung investiert wie noch 1990. Wissenschaft in Russland - das heißt derzeit vor allem mit dem Mangel leben und sich irgendwie über Wasser halten. Das durchschnittliche monatliche Grundgehalt eines Universitätsprofessors sind nur ein paar hundert Euro - weshalb mancher nach der Arbeit Taxi fährt, um etwas dazu zu verdienen.

    St. Petersburg, Ulitza Balshaya Monetnaya. Das Nansen-Zentrum für Fernerkundung liegt versteckt in einem Hinterhof - die Zufahrt ist mit Schlaglöchern übersäht. Einzig die bunten Geräte auf einem angrenzenden Kinderspielplatz blitzen farbenfroh in der Sonne.

    Das internationale Nansen-Institut wurde 1992 gegründet, unter Beteiligung von Forschungseinrichtungen in Norwegen, Deutschland und den USA. Die rund 30 Forscher hier analysieren Umweltveränderungen in den nördlichen Breiten bis zur Arktis - natürliche und vom Menschen hervorgerufene, erklärt Leonid Bobuljof, der geschäftsführende Direktor.

    In einem wohnzimmergroßen Arbeitsraum starren junge Mitarbeiter konzentriert auf Computermonitore mit Klimatabellen und Satellitendaten. Eingepfercht wie Sardinen sitzen die Forscher hier: 17 Arbeitsplätze auf 30 Quadratmetern. Dabei sei man durchaus privilegiert, findet Lenoid Bobuljof. Dank der Gelder aus dem Ausland - die Gründungsmitglieder des Instituts bezahlen ein Viertel des jährlichen Etats - haben die Forscher Zugang zu den wichtigsten wissenschaftlichen Fachmagazinen. Für viele Kollegen keine Selbstverständlichkeit.

    " Viele Forschungsinstitute in Russland, ja sogar die Nationalbibliothek können es sich nicht mehr leisten, die führenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften zu abonnieren. Es fehlt einfach am Geld. Durch unsere starke Kooperation mit dem Ausland stehen wir zum Glück besser da."

    Bobuljof nimmt es trotzdem keinem seiner Mitarbeiter übel, wenn er früher oder später ins Ausland geht. Einige seiner früheren Kollegen arbeiten heute in Großbritannien oder Deutschland.

    Dabei sind die Forscher in dem St. Petersburger Hinterhof durchaus erfolgreich bei dem, was sie tun. Durch jahrelange satellitengestützte Radarmessungen der Eisdicke in der Arktis sind sie zum Beispiel geübt darin, verschiedene Arten von Eis aus dem All zu klassifizieren - eine Expertise die anderswo bares Geld wert wäre, nur eben leider nicht in Russland, beklagt Projektleiter Witali Alexandrow.

    " Seit vergangenem Jahr senden wir regelmäßig Satellitendaten über die Eisbedeckung in der Barentsee an eine Reederei in Murmansk. Die Experten dort verwenden diese Radarbilder aus dem All, um ihren Frachtschiffen Routenempfehlungen zu geben. In Zukunft wollen wir unsere Informationen auch direkt an die Kapitäne von Eisbrechern weiterleiten, damit die den schnellsten Kurs wählen können - also da lang, wo das Eis am dünnsten ist. Erste Tests waren erfolgreich. "

    Neu erschlossene Rohstofflagerstätten in Nordwestsibirien dürften den Frachtschiffverkehr in der Barentsee in den kommenden 15 Jahren stark zunehmen lassen. Eine Technologie, mit der Eisbrecher ihren Konvois schneller den Weg bahnen, könnte sich also rechnen.

    " Die Kapitäne fanden unsere Bilder sehr hilfreich. Aber die staatliche Eisbrecherflotte will nichts dafür bezahlen. Deshalb mussten wir unsere Arbeit über Gelder aus dem Ausland finanzieren, unter anderem von der europäischen Raumfahrtagentur ESA. "

    Ohne Geld aus dem Ausland geht heute kaum noch was in russischen Forschungslabors. Im vergangenen Jahr hatte die Regierung 46 Milliarden Rubel für Forschung vorgesehen, also knapp 1,3 Milliarden Euro - 140 mal weniger als das Wissenschaftsbudget der USA. Der Anteil der Forschungsaufwendungen am Bruttosozialprodukt beträgt in Russland 1,3 Prozent - viel zu wenig für eine Industrienation. Der EU-Durchschnitt liegt bei 2 Prozent, geplantes Ziel sind 3 Prozent.

    Forscher, die trotz der desolaten Finanzlage auf internationalem Parkett mitspielen wollen, müssen sich etwas einfallen lassen. So wie zum Beispiel Andrei Kozlov. Der ist Professor für Biologie an der staatlichen Universität St. Petersburg und gleichzeitig Leiter des privat-finanzierten Biomedizinischen Zentrums der Stadt.

    Andrei Kozlov ist einer der führenden Aidsforscher Russlands. In den 1970er Jahren hatte er einige Jahre am nationalen Krebsforschungszentrum in den USA gearbeitet, im Labor des späteren HIV-Entdeckers Robert Gallo. Zurück in Russland war Kozlov dann einer der ersten, der das Ausmaß der Epidemie erkannte und sich wissenschaftlich damit befasste. Auf staatliche Unterstützung konnte er dabei kaum zählen: Das Problem Aids wird von der Moskauer Regierung bis heute bagatellisiert.

    " Unsere Regierung hat alle Hände voll zu tun, deshalb hat sie dem Problem Aids bislang keine Priorität eingeräumt. Aber immerhin: In seiner letzten großen Rede hat Präsident Putin das Thema erstmals überhaupt erwähnt. Das ist ein Fortschritt. Aber ein klarer politischer Wille, die Epidemie einzudämmen, ist noch nicht zu erkennen. "

    Nach der Einführung obligatorischer HIV-Tests bei Drogenabhängigen in St. Petersburg begann Andrei Kozlov in den 1990er Jahren, die Ausbreitung der Seuche zu untersuchen. In der zweitgrößten Stadt Russlands ist jeder dritte junge Junkie mit HIV infiziert, für epidemiologische Studien ist die Region deshalb ein Eldorado. Kozlovs Daten sind für Gesundheitsbehörden und Pharmakonzerne weltweit bares Geld wert. An Fördermittel zu kommen, sei für ihn kein Problem, sagt der Mann. Wer genau seine Arbeit im Detail finanziert, will er aber nicht verraten. Transparenz? In Russland bis heute ein Fremdwort.

    Die nächste Station auf der von der Robert-Bosch-Stiftung organisierten Russland-Reise für Wissenschaftsjournalisten ist Moskau. Im Flugzeug ist Zeit, die ersten Eindrücke Revue passieren zu lassen. Für die Bedingungen unter denen sie arbeiten, wirken Forscher wie Andrei Kozlov fast schon ein wenig zu selbstbewusst. Dass hier Spitzenforschung auf Weltniveau betrieben wird, ist nach einem Blick in die Labors schwer zu glauben. Aber klappern gehört eben zum Geschäft - in Russland derzeit vielleicht noch mehr als anderswo.

    Der erste Termin in Moskau bestätigt diesen Eindruck.

    Das Engelhardt-Institut für Molekularbiologie der russischen Akademie der Wissenschaften. Ein imposantes klassizistisches Gebäude an der Ulitza Vavilov, mit viel Marmor in der Eingangshalle. Professor Sergei Nedospasov, ein international renommierter Molekularbiologe, führt uns in einen frisch renovierten Raum, der an einen Art-Deco-Kinosaal erinnert. Rote Klappsitze aus Kunstleder und Stuck an den Decken, links und rechts der Bühne sind Hammer und Sichel in Stein gemeisselt.

    Am Vortag noch habe hier der renommierte Schweizer Prionenforscher Agguzzi einen Vortrag gehalten, sagt der Mann im dunklen Anzug.

    Sergei Nedospasov ist Genetiker und erforscht Proteine, die das Zellwachstum steuern. Doch nach seinen aktuellen Arbeiten befragt, referiert er erst einmal seinen akademischen Werdegang - und zwar so ausführlich, dass manchem der mitreisenden Kollegen nach einer Stunde die Augen zufallen.

    Die Internetseite des in Russland einst führenden Instituts wurde seit Jahren nicht mehr aktualisiert. Und als wir dann doch noch kurz in einige kleine Labors schauen dürfen, zeigt man uns unter anderem zwei Maschinen zur Präparation von DNA-Chips.

    Der weißhaarige Forscher davor erweckt aber nicht den Eindruck, als ob er die High-Tech-Geräte tatsächlich bedienen könnte - was auch kein Wunder ist, denn sie wurden offenbar eben erst ausgepackt und sind noch gar nicht angeschlossen. Nur: zugeben will das hier keiner. Die Grenzen zwischen Schein und Sein - in russischen Labors scheinen sie manchmal zu verschwimmen.

    Höchste Zeit also, sich mit Experten zu unterhalten, die die russische Forschungslandschaft objektiver beurteilen können. Zum Beispiel mit Dr. Christian Schaich, dem Leiter des kleinen Moskauer Verbindungsbüros der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG.

    " Der Hauptschwachpunkt ist die Unterfinanzierung. Das geht auch so, dass zum Beispiel im Budget einer Förderorganisation, etwa unserer Partnerorganisation, der russischen Stiftung für Grundlagenforschung, denen werden 450 Millionen zugewiesen, aber ausgezahlt werden nur 360 Millionen. Das bedeutet, dass die ihre geplanten Projekte kürzen müssen und überhaupt keine Planungssicherheit haben, über das Jahr hinweg, was sie fördern können, in welchem Umfang, und wie viel Geld noch da sein wird.

    Das andere: Die Vergreisung im wissenschaftlichen Sektor. Das gilt nicht nur für die Akademie der Wissenschaften, sondern es gilt auch allgemein für alle Forschungsstätten: Es besteht ein Mangel an Wissenschaftlern zwischen 28 Jahren und 50 Jahren. Da sind vor 10 Jahren viele Wissenschaftler abgewandert und die wiederzugewinnen ist nicht leicht, weil einfach die finanzielle Ausstattung nicht gut ist. "

    Chronische Unterfinanzierung, Vergreisung und die Abwanderung kluger Köpfe - das sind auch für den Innovationsforscher Lenonid Gokhberg die Schwachpunkte. Der Wirtschaftswissenschaftler von der Moskauer Higher School of Economics hat im Auftrag der Regierung die Stärken und Schwächen der russischen Forschungslandschaft untersucht. Seine Analyse ist verheerend und macht vor allem verkrustete Strukturen für die Malaise verantwortlich. Und weil die Regierung erst jetzt laut über Reformen nachdenkt, sagt Gokhberg, habe man 10 Jahre verloren,.

    " Unsere Forschungsinfrastruktur ist ein Überbleibsel aus Sowjetzeiten. Damals gab es Einrichtungen, in denen geforscht wurde, und andere, in denen Forschungsergebnisse in die Anwendung übertragen wurden. Im Zuge der Reformen, sind diese Bindeglieder zwischen Grundlagen-forschung und Anwendung verschwunden. Die Forschungsinstitute standen plötzlich allein da und mussten Wege finden, ihre Ergebnisse selbst zu vermarkten. Nicht alle waren dabei gleich erfolgreich. "

    Als Regierungsberater hat Leonid Gokhberg gelernt, sich diplomatisch auszudrücken. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Nehmen wir zum Beispiel die Russische Akademie der Wissenschaften mit ihren insgesamt rund 450 Instituten: Experten gehen davon aus, dass ein Großteil davon nur noch auf dem Papier wirklich Forschung betreibt. Manche vermieten einfach ihre repräsentativen Gebäude, um sich finanziell über Wasser zu halten.

    Die Reformpläne der Regierung sehen vor, bis 2008 90 Prozent der insgesamt 2500 Forschungsinstitute im Land zu schließen. Nur 250 international konkurrenzfähige Labors sollen weiter Geld vom Staat bekommen. Ein Wettbewerb um Fördermittel - für viele der älteren Wissenschaftler ist das nach Jahrzehnten staatlicher Vollversorgung eine herbe Umstellung. Weil auch der Hälfte der Akademie -Institute das Aus droht, wehren sich deren Mitglieder mit Händen und Füßen gegen die Reform, sagt Christian Schaich von der DFG.

    " Ein wesentlicher Grund sind natürlich die persönlichen Vorteile, die sie haben, als Akademiemitglieder. Wohnung, Ferienwohnung, unter Umständen einen Fahrer, bestimmte Freiflüge und so weiter und so fort. Und das andere ist eben, dass hier wie bei allen Reformen zunächst einmal das Bestehende hochgehalten wird und man per se ablehnt, was von außen kommt. Ich denke, das ist auch ein Teil des Spiels, dass man sich eben möglichst viel Mitspracherecht einräumen lassen möchte und das nicht eben durch staatliche Strukturen von außen sich vorgeben lassen möchte. "

    Das Durchschnittsalter der Akademie-Direktoren ist über 70 Jahre - ein Haufen vergreister Betonköpfe, sagt mancher hinter vorgehaltener Hand. Bei der diesjährigen Jahresversammlung der gut 1000 Mitglieder, Ende Mai in Moskau, hat man schon mal den Aufstand geprobt. Es gab Pfeifen und Zwischenrufe als Reaktion auf die Pläne der Regierung - ein Novum bei der sonst eher beschaulich verlaufenden Veranstaltung, das tags darauf Schlagzeilen machte.

    Die Lomonosov-Universität in Moskau ist ein beeindruckendes Bauwerk. Das Hauptgebäude ist eines der sieben nach dem 2. Weltkrieg erbauten Hochhäuser, die neben Kreml und rotem Platz zum Markenzeichen der Stadt geworden sind. Das Institut für Polymerphysik befindet sich in einem deutlich niedrigeren, von außen aber kaum weniger imposanten Bau ein paar Straßen weiter. Drinnen führen lange, mit dunklem Holz vertäfelte Gänge zu den Hörsälen - fast wie in einem Kloster.

    Der Schwerpunkt der Forschung hier sind funktionelle Polymere, zum Beispiel Flüssigkristalle, die in Flachbildschirmen und Handydisplays zum Einsatz kommen. Die Arbeitsgruppe unter der Leitung von Professor Alexei Khoklov gilt in Deutschland als Aushängeschild der russischen Forschung. 1992 bekam der Physiker für seine Arbeiten den Humboldt-Forscher-Preis, 2001 den Wolfgang-Paul-Preis des Bundesforschungsministeriums. Alexei Khoklov hat Honorarprofessuren in Ulm und Stony Brook, im US-Bundesstaat New York. Die Drittmittel für die neuen Computer im Serverraum stammen unter anderem vom koreanischen Elektronikkonzern LG, von BASF und Dupont.

    In einem kleinen Raum stehen auf einem Metallregal etwa 40 Pentium-4-PCs in Reih und Glied. Ein Gewirr von Kabeln verbindet die Netzwerkkarten der Computer, an einem Router blinken hektisch rote Leuchtdioden. High-Tech in Russland - die vernetzten Bürocomputer sind der Hochleistungsrechner, mit dem die Wissenschaftler das Verhalten von Riesenmolekülen simulieren.

    Also schöne neue Forschungswelt Russland? Nur auf den ersten Blick. Die Bakelitsteckdosen im Computerraum scheinen seit 50 Jahren an der Wand zu hängen und das Kühlgebläse am Fenster ist zu schwach für den Moskauer Sommer, weshalb Prozessorausfälle wegen Überhitzung nichts ungewöhnliches sind.

    Die Situation der Polymerphysiker an der staatlichen Universität Moskau ist symptomatisch für die Wissenschaft in Russland. Selbst die klügsten Köpfe haben mit widrigen Rahmenbedingungen zu kämpfen.

    So klingt es, wenn eine Iljuschin 86 der Aeroflot von Moskau aus nach Novosibirsk startet. Es wird eine kurze Nacht, wir fliegen der Sonne entgegen. Die drittgrößte russische Stadt liegt hinter dem Ural, 3000 Kilometer und drei Zeitzonen östlich von Moskau.

    Das Akademikerstädtchen Akademgorodok liegt 30 Kilometer von Novosibirsk entfernt. Auf einem weitläufigen Gelände sind Institutsgebäude und Wohngebiete im Birkenmischwald verstreut.

    Wir besuchen das Budker-Institut für Kernphysik - mit insgesamt 2900 Mitarbeitern eine der größten Forschungseinrichtungen Russlands. In zwei riesigen Versuchshallen machen Plasmaphysiker hier Experimente zur Kernfusion. Die gigantischen Anlagen wirken zwar schon etwas in die Jahre gekommen, sind aber gut in Schuss. Das gilt auch für den Teilchenbeschleuniger des Instituts, in dem die Physiker Elektronen und Positronen aufeinander schießen.

    Elena Grimjanskaja ist um die 30, sie trägt Jeans und Faserpelz und arbeitet schon seit 7 Jahren hier. Zur Zeit tüftelt sie an einer Präzisionsmessung der Masse von Tau-Leptonen.

    Im Kontrollraum des Teilchenbeschleunigers: die für russische Labors typische Mischung aus modernem und antiquiertem Gerät: Neben einer Reihe von Flachbildschirmen stehen 30 Jahre alte Röhrenmonitore.

    Immerhin: Verglichen mit anderen Instituten in Moskau und St. Petersburg scheinen die Arbeitsbedingungen hier ansatzweise westlichem Standard zu genügen. Ist das Akademikerstädtchen also immer noch eine Oase der Forschung in Russland? Professor Alexander Skrinsky, der Direktor des Budker-Instituts, bestätigt diesen Eindruck.

    Als sehr gut würde ich unsere Arbeitsbedingungen nicht bezeichnen, aber sie sind besser als anderswo. Viele Einrichtungen in Akademgorodok haben Wege gefunden, mit ihrer Forschung Geld zu verdienen. Im Mittel bestreiten russische Forschungsinstitute nur einen Viertel ihres Etats aus Drittmitteln, der Rest kommt vom Staat. In sibirischen Zweig der Akademie der Wissenschaften liegt der Drittmittelanteil dagegen schon bei 50 Prozent. Und bei uns am Budker-Institut stammen bereits drei Viertel der Einnahmen aus nicht-staatlichen Quellen.

    Im vergangenen Jahr hat das Institut Präzisionsbauteile für Teilchenbeschleuniger im Wert von 20 Millionen US-Dollar produziert. Die Abnehmer sitzen in den USA, Japan, China und Südkorea - und in Deutschland. Erst kürzlich hat das deutsche Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg für 3 Millionen Euro 20 spezielle Ablenkmagnete bestellt: so genannte 'Damping Wiggler’, die Elektronen auf einem Slalomkurs zur Emission von Synchrotronstrahlung zwingen.

    Auch wenn sich die einst führenden russischen Nuklearphysiker damit zur verlängerten Werkbank des Westens degradieren - das Geld aus dem Ausland ist die einzige Chance, sich über Wasser zu halten

    Und das gilt auch für die letzte Forschungseinrichtung, die wir auf unserer Reise zur Wissenschaft in Russland besuchen: Das staatliche Forschungszentrum für Virologie und Biotechnologie, kurz VECTOR. VECTOR, das war lange ein geheimnisumwobenes Terrain, ein weißer Fleck auf der Landkarte westlicher Geheimdienste.

    Die Straße nach Koltsovo ist erstaunlich holprig, wenn man bedenkt, dass hier bis vor 15 Jahren noch die Elite der sowjetischen Biowaffenforscher gearbeitet hat. Jahrzehntelang war das Areal eine verbotene Zone. Heute lässt man nach vorheriger Anmeldung sogar Journalisten aufs dreifach umzäunte Gelände.

    Die erste Überraschung wartet an der Pforte. Keine elektronisch gesicherte Stahltür, sondern ein mickriges hüfthohes Metalldrehkreuz versperrt den Eingang. Zwei Soldaten in Uniform bewachen den Zugang und prüfen die Pässe. Einen Steinwurf von hier experimentieren Biologen, geschützt von grünen Astronauten-Anzügen, mit den gefährlichsten Krankheitserregern, die es gibt. Pocken, Ebola, Marburg, Lassa, SARS und Aids - die Viren, die hier in Gefrierschränken lagern, sind der Albtraum jedes Seuchenexperten.

    Doch Vector-Vizedirektor Sergei Netesov ist geübt darin, Zweifel an den Sicherheitsvorkehrungen zu zerstreuen. "Computerviren sind für uns hier mindestens genauso gefährlich wie die biologischen Erreger", scherzt er und erläutert die Sicherheitsmaßnahmen an einem der Laborgebäude, in dem 400 Forscher arbeiten:

    Laborgerät und Arbeitskleidung werden vor Ort desinfiziert und verbrannt; in den Hochsicherheitslabors herrscht Unterdruck, damit keine Keime ins Freie gelangen; Und mit den gefährlichsten Erregern dürfen nur Forscher experimentieren, deren Integrität seit Jahren außer Frage steht - und auch dann immer nur in Zweierteams, um die Diebstahlgefahr zu minimieren.

    " In den vergangenen 25 Jahren haben sich insgesamt drei Mitarbeiter mit gefährlichen Keimen infiziert. Zwei davon sind gestorben - an Marburg und Ebola. Der dritte hat überlebt und arbeitet heute noch hier. "

    Ein klappriger Kleinbus fährt uns über das Gelände, vorbei an einer Isolierstation, in der die Infizierten seinerzeit behandelt wurden. Das Areal versprüht den Charme einer Industriebrache. Die meisten Gebäude sind renovierungsbedürftig. Im Gras blüht Löwenzahn.

    Dann die schlechte Nachricht: Der vorgesehene Besuch zweier Forschungslabors fällt aus. Begründung? Keine. Dafür noch einen Stopp vor einem rot-weißen Backsteingebäude.

    " Das ist das Gebäude, in dem wir mit Pockenviren arbeiten. Darin finden sich Labors der höchsten biologischen Sicherheitsstufe. "

    Merkwürdig nur, dass im dritten Stock ein Fenster offen steht. Überhaupt sieht das Gebäude heruntergekommen aus und von den angeblich vorhandenen Überwachungskameras ist keine auszumachen. Der Verdacht, dass einem hier ein X für ein U vorgemacht werden soll, verstärkt sich. Vermutlich sind die Pockenviren ganz woanders - aus Sicherheitsgründen.

    Das VECTOR-Institut ist neben dem US-Seuchenbekämpfungszentrum CDC in Atlanta die einzige Forschungseinrichtung weltweit, die offiziell noch Pockenviren lagert. Aus Angst vor bioterroristischen Angriffen hat die Weltgesundheitsorganisation die geplante Vernichtung der Bestände immer wieder aufgeschoben, denn wer eine Pockenepidemie eindämmen will, muss den Erreger erforschen. Von 1999 bis 2003 haben die Biowissenschaftler in Koltsovo 5000 potenzielle Wirkstoffe gegen Pocken getestet. Vier davon verhindern die Vermehrung der Viren. Finanziert wurde die Arbeit durch Gelder der nationalen Gesundheitsbehörde und vom Verteidigungsministerium der USA.

    Nach offiziellen Angaben betrug der Forschungsetat von VECTOR im vergangenen Jahr 7 Millionen US-Dollar. 35 Prozent davon kamen aus dem westlichen Ausland, von internationalen Organisationen und Fonds zur Rüstungskonversion. Vom russischen Militär, heißt es, bekomme man heute überhaupt kein Geld mehr.

    St. Petersburg, Moskau, Novosibirsk - nach einer Woche zu Besuch bei international renommierten Aushängeschildern der russischen Forschung ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Und die fällt ernüchternd aus: Unterfinanzierung, Brain Drain, verkrustete Strukturen - der Grundlagenforschung in Russland droht der Abstieg in die 2. Liga. Wissenschaft auf Weltniveau wird hier nur noch vereinzelt betrieben. Eine Reform der starren Strukturen scheint überfällig, aber sie droht am Widerstand der russischen Akademie der Wissenschaften zu scheitern.

    Allzu schwarz sehen, sollte man aber trotzdem nicht. Bis auf weiteres bleiben viele russische Spitzenforscher international gefragte Partner. Nicht zuletzt weil sie preiswert sind. Am besten auf den Punkt gebracht, hat das ein Ingenieur aus den USA, den wir am Flughafen in Novosibirsk getroffen haben. Der Mann arbeitet im Auftrag einer internationalen Ölbohrfirma mit russischen Geologen zusammen. Seine Begründung: In Russland bekommt man viel gute Forschung für wenig Geld.