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Mehr Sicherheit für Pflegekinder
Stolpersteine für eine wichtige Reform

Wie lange Kinder in Pflegefamilien bleiben oder ob sie nicht doch noch zu den leiblichen Eltern zurückkehren, ist rechtlich häufig unsicher. Das ist für alle Beteiligten belastend, vor allem für die Kinder. Mit einem neuen Gesetz will die Bundesregierung Abhilfe schaffen.

Von Tomma Schröder |
Auf blauem Hintergrund sind die Silhouetten einer Familie mit Mutter, Vater, Tochter und Sohn in weiß zu sehen.
Soll das Kind dauerhaft bei den Pflegeeltern wohnen oder gibt es eine Chance auf Rückkehr zu den leiblichen Eltern? (picture alliance / dpa / Jens Kalaene)
Familie Jensen, wie wir sie nennen, sitzt am Tisch und schaut sich Bilder von Joey an. Der kleine Junge, auch er heißt eigentlich anders, wurde seiner leiblichen Mutter wegen Kindeswohlgefährdung weggenommen und direkt danach zu den Jensens gebracht. Er war damals wenige Wochen alt. Drei Jahre später aber entscheidet ein Gericht, dass Joey zu seinen leiblichen Eltern zurückkehrt. Die ältere Pflegeschwester und die Pflegemutter erinnern sich.
"Und kurz bevor er weggenommen wurde, da hab‘ ich ihn ins Bett gebracht, und immer, wenn ich aufstehen wollte, weil ich dachte, dass er eingeschlafen ist, ist er hochgeschreckt, hat meine Hand festgehalten und meinte: Lotte, Du gehst nicht, du gehst nicht, oder?"

"Von heut‘ auf morgen ist er raus. Es ist, als wenn das Kind gestorben ist."

Joey ist kein Einzelfall. Zwar ist jedes Schicksal individuell, hat verschiedene Nuancen und Sichtweisen – aber Experten wie der Sozialwissenschaftler Klaus Wolf von der Universität Siegen sehen schon lange eine Schieflage bei der gesetzlichen Regelung zu Pflegekindern.
Mann hält ein Kind an der Hand
Kind sucht Obhut
Ein Kind kommt in einer akuten Notsituation in eine Pflegefamilie und findet dort Geborgenheit. Irgendwann kann es zu seinen leiblichen Eltern zurückkehren, wenn sich deren Lebensumstände stabilisiert haben. Soweit das ideale Szenario. Die Realität sieht oft dramatisch anders aus.
"Gerade wenn Kinder Wurzeln geschlagen haben, dann ist die Herausnahme aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses in den Augen der Kinder häufig eine Art staatliche Gewalt."

Eltern- und Kinderrechte austarieren

Kinder- und Elternrecht, so fordern es Fachleute seit langem, müssten neu austariert werden. Vor allem fordern sie, frühzeitig die mögliche Zukunft der Kinder zu klären und die Möglichkeit zu schaffen, dass sie dauerhaft in ihrer Pflegefamilie bleiben können, wenn sie dort sehr feste Bindungen entwickelt haben. Doch diese sogenannte Dauerverbleibensanordnung gesetzlich zu regeln, ist nicht ganz einfach, wie der Familienrechtler Ludwig Salgo von der Universität Frankfurt erklärt:
"Die Herausforderung an der Gesetzgebung liegt bereits im Grundgesetz. Wir haben hier ein Spannungsverhältnis, was der Gesetzgeber gestalten muss. Nämlich einerseits haben Eltern starke Rechte. Gleichzeitig haben wir ein staatliches Wächteramt. Kinder haben einen grundrechtlichen Anspruch auf Schutz durch den Staat. Die Menschenwürde des Kindes, seine Persönlichkeitsrechte, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Schutz des Lebens sind natürlich unbedingt zu beachten."
Eine Jugendliche plündert ihr Sparschwein mit einem Messer (Symbolbild)
Ein Euro für mich, drei fürs Jugendamt
Jugendliche, die im Heim oder in einer Pflegefamilie leben, müssen bis zu drei Viertel ihres Einkommens an das Jugendamt abgeben. Viele Betroffene finden das unfair. Und Kritiker sagen: Es entmutigt die jungen Berufstätigen, arbeiten zu gehen.
Bereits 2017 ist das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz genau an diesem Punkt gescheitert. CDU und CSU monierten damals, dass die Elternrechte zu stark beschnitten würden und die Beteiligung von Verbänden und Interessensvertretungen unzureichend gewesen wären. Der familienpolitische Sprecher der Unions-Fraktion, Marcus Weinberg:
"Das Elternrecht ist schon etwas, was einen hohen Wert bei uns hat, nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch aus der Grundüberzeugung heraus, dass die Bindung zwischen Kindern und leiblichen Eltern natürlich immer eine besondere ist. Und deswegen muss es die erste Aufgabe sein, die Erziehungsfähigkeit der leiblichen Eltern wieder zu stärken und zwar so zu stärken, dass dann auch möglicherweise die Kinder wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückkommen."

Eltern müssen immer die Option haben ihr Kind zurückzubekommen

Auch diesmal gab es an diesem Punkt einigen Wirbel. Der Jurist Ludwig Salgo: "Im vorparlamentarischen Gesetzgebungsverfahren fand sich völlig überraschend im Referentenentwurf ein Vorschlag, die Rückkehr von Pflegekindern in den elterlichen Haushalt selbst dann anordnen zu können, wenn dadurch die Kinder gefährdet werden könnten. Das heißt, der Staat sollte eine nicht unwahrscheinliche Kindeswohlgefährdung selbst herbeiführen dürfen, um danach mal zu probieren, ob dieser selbst herbeigeführten Gefährdung durch öffentliche Hilfen begegnet werden kann."
Möglichst frühzeitige Erziehungshilfen für die leiblichen Eltern seien sehr wichtig, sagt Marcus Weinberg, gibt aber zu, dass die zwischenzeitliche Formulierung unklar und missverständlich gewesen sei. Hier habe man nachgebessert, was auch Familienministerin Franziska Giffey von der SPD auf Nachfrage des Deutschlandfunk bestätigt:
"Es muss immer noch den theoretischen Fall geben, dass sich die leiblichen Eltern wieder stabilisieren. Wenn also die Eltern sich so stabilisieren, dass das Kind gefahrlos auch wieder selbst erzogen werden kann von ihnen, dann muss es immer noch die Möglichkeit geben, dass die Dauerverbleibensanordnung wieder aufgehoben werden kann. Das gebietet die Verfassung und die darin verankerten Elternrechte. Aber es ist ganz entscheidend, dass diese Dauerverbleibensanordnung nicht einfach so wieder aufgehoben werden kann, sondern es muss wirklich dann ganz sicher sein, dass das Kind weder Schaden nimmt durch den Rückgang zu den Eltern noch durch den Verlust der entstandenen Bindungen zu den Pflegeeltern."

Gesetzentwurf stärkt Kinderrechte

Neben der Dauerverbleibensanordnung enthält der Entwurf viele weitere wichtige Änderungen für Pflegekinder: So sollen Ombudsstellen eingerichtet werden, an die sie sich mit ihren Problemen und Beschwerden wenden können; der Wille der Kinder soll bei Entscheidungen stärker berücksichtigt werden; und sowohl leibliche als auch Pflege-Eltern sollen sich früher beraten lassen können. Und schließlich sollen die Kosten, mit denen sich Pflegekinder an ihrer Unterbringung beteiligen müssen, deutlich verringert werden. Bisher, so erklärt Rainer Becker von der Deutschen Kinderhilfe, müssen Jugendliche in Pflegefamilien oder Heimen nämlich 75 Prozent ihrer Einkünfte aus Nebenjobs oder der Ausbildung abführen.
"Gerade bei Jugendlichen mit Förderbedarf, das war sehr schwer, die dann zu motivieren, überhaupt eine Ausbildung zu machen, weil sie ja ohnehin das abgezogen bekommen. Und hier ist man jetzt auf aus meiner Einschätzung sehr realistische 25 Prozent heruntergegangen."
Eine Veränderung, die von allen Beteiligten begrüßt wird. "Meine Hochachtung vor der jetzigen Weiterentwicklung dieses Entwurfs. Dieses Mal gibt es aus meiner Sicht kaum hervorhebenswerte Kritik, es ist überwiegend positiv und gelungen."
Ob das auch alle Abgeordneten so sehen, wird sich nächste Woche zeigen. Da soll der Gesetzentwurf im Bundestag diskutiert werden. Mitte März, sagen Beteiligte, könnte das Parlament dann zustimmen, und Anfang Mai der Bundesrat sein OK geben.