Stefan Heinlein: Wer weltweit unterwegs ist und sich als Deutscher zu erkennen gibt, bekommt von Fall zu Fall unverhofft Lob und Anerkennung für Maschinen und Produkte "made in Germany". Deutsche Ingenieurskunst ist international hoch im Kurs, ein Gütesiegel, heiß begehrt auf dem Arbeitsmarkt. Und so wundert es nicht, dass viele Abiturienten sich nach ihrem Schulabschluss entscheiden, eines der sogenannten MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft oder Technik zu studieren. Fast 40 Prozent eines Hochschuljahrgangs belegt aktuell eines dieser MINT-Fächer, ein internationaler Spitzenwert, den gestern eine OECD-Vergleichsstudie zu Tage brachte.
Darüber möchte ich jetzt reden mit Lars Funk. Er ist Bildungsexperte vom Verein Deutscher Ingenieure. Guten Morgen, Herr Funk!
Lars Funk: Guten Morgen, Herr Heinlein!
"Diese schönen Zahlen werden noch nicht ausreichen"
Heinlein: Vier von zehn Studenten entscheiden sich aktuell für ein MINT-Studium. Die Bundesregierung klopfte sich gestern dabei kräftig auf die Schultern. Wie berechtigt ist denn diese Euphorie, dieser Jubel in Berlin über diese OECD-Studie?
Funk: Ja, das sind schon sehr erfreuliche Zahlen. Man darf ja nicht vergessen: Es sind ja enorme Anstrengungen unternommen worden in den letzten 10, 15 Jahren, den Anteil der MINT-Studenten in Deutschland zu steigern, Anstrengungen von Politik, aber auch von Wirtschaft und vielen anderen Akteuren in der Gesellschaft, und das ist Zug um Zug gelungen. Wenn man sich die Ingenieure anguckt, was ja eine große Gruppe der MINT-Studierenden darstellt, dann haben sich die Absolventenzahlen dort in den letzten Jahren fast verdoppelt. Und das sind schon, ich sage mal, tolle Zahlen, die man auch ein bisschen feiern darf.
Man darf sich aber nicht darauf ausruhen, weil das Dumme an der Sache ist, dass auch diese schönen Zahlen noch nicht ausreichen werden, sondern unsere Wirtschaft treibt ja nach wie vor die Sorge um, ob sie in zwei, drei, vier Jahren auch noch genug Fachkräfte finden wird in diesem Bereich.
Heinlein: Dann lassen Sie uns, Herr Funk, diese Zahl noch einmal genau angucken. Sie sagen, Verdopplung bei den Ingenieurszahlen. Gilt das auch für die anderen MINT-Fächer, etwa für Informatik?
Funk: Verdoppelung gilt für die Informatik nicht, aber eine deutliche Steigerung gilt auch für die Informatik.
"Es ist gelungen die Attraktivität der Berufe darzustellen"
Heinlein: Haben Sie eine Erklärung, warum jetzt so viele ein MINT-Fach studieren wollen? Sind das allein die Aussichten auf einen gut bezahlten Job?
Funk: Zum Glück nicht. Natürlich spielen diese Jobaussichten eine Rolle. Aber ich denke, dass es in den letzten Jahren gelungen ist, auch die Attraktivität der Berufe darzustellen und auch darzustellen, dass sich die Berufsbilder geändert haben. Wenn man sich den Ingenieurberuf anguckt, dann hat es da ja deutliche Veränderungen gegeben. Die Ingenieure vor 20, 30, 40 Jahren, wie sie gearbeitet haben und wie sie heute arbeiten, häufig in internationalen Teams, in Projekten, agil, sehr flexibel, das sind schon viele Randbedingungen, die den Beruf, glaube ich, auch attraktiv machen für viele, die sich vorher nicht so sehr dafür begeistern konnten.
Heinlein: Sie haben von enormen Anstrengungen gesprochen, die man in den letzten Jahren unternommen hat, um die Attraktivität dieser MINT-Fächer zu steigern. Was waren das für Anstrengungen? Wie hat man es geschafft, so viele Menschen, so viele junge Menschen in die Hörsäle zu locken - für MINT-Fächer?
Funk: Man hat ganz früh angefangen, im Grunde nicht erst in der Schule, sondern zum Beispiel im Kindergarten die Attraktivität der Naturwissenschaften und der Technik darzustellen, für naturwissenschaftliche Phänomene zu werben, diese zu erklären, die Neugier zu wecken, dem nachzugehen. Da hat sich sehr, sehr viel getan vom Kindergarten über sämtliche Schulformen bis schließlich zur Studienberatung, und das hat über einen längeren Zeitraum von 10, 15 Jahren tatsächlich zu diesen jetzt erfreulichen Zahlen geführt.
"Das Bildungsniveau der Studienanfänger ist sehr unterschiedlich"
Heinlein: Herr Funk, die Quantität ist ja das eine. Wie steht es denn um die Qualität der Studenten? Es wurde ja in der Vergangenheit viel geklagt über das sinkende Bildungsniveau an den Schulen, gerade im Bereich der Naturwissenschaften.
Funk: Da gibt es sicherlich ganz, ganz viel, was man da besprechen könnte. Was wir nicht vergessen dürfen: Die Absolventen, die wir haben, gerade im Ingenieurbereich und im naturwissenschaftlichen Bereich, die stehen weltweit sicherlich an der Spitze. Wir sind weltweit hoch angesehen für die Ingenieurausbildung, die wir haben in Deutschland, schon seit vielen Jahren. Daran hat sich auch in den letzten Jahren nichts geändert, auch nach Bologna nichts geändert. Das ist schon sicherlich sehr gut.
Wenn man den Hochschulen zuhört, den Hochschulvertretern zuhört, dann beklagen die vor allen Dingen die Heterogenität, mit der die Studenten im Moment an die Schulen kommen. Das Bildungsniveau ist sehr unterschiedlich von den Studienanfängern und dieses innerhalb der kurzen Studienzeiten jetzt tatsächlich aufzuholen, das ist die große Herausforderung für die Hochschulen.
Heinlein: Und wie wird diese Herausforderung gemeistert an den Hochschulen?
Funk: Es gibt eine Vielzahl von Maßnahmen. Vor allen Dingen wird versucht, das Studium zu flexibilisieren und tatsächlich auf die unterschiedlichen Bedürfnisse einzugehen, nicht mehr ein Angebot für alle und alle müssen da durch in der gleichen Zeit, sondern unterschiedliche Angebote, auch unterschiedliche Längen von Studien. Viele Hochschulvertreter sprechen ja davon, dass wir zu unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Studium noch stärker kommen müssen, um individueller auf die einzelnen Gruppen einzugehen.
"Teilweise wird beklagt, dass Bruchrechnen, Dreisatz tatsächlich noch nicht sitzen"
Heinlein: Können Sie uns erklären, wie groß ist denn der mathematisch-naturwissenschaftliche Nachholbedarf bei den Erstsemestern? Muss man tatsächlich beim kleinen Einmaleins, beim Dreisatz anfangen?
Funk: Wenn man den Professoren glaubt, die die Mathevorlesungen in den ersten Semestern geben, teilweise ja. Teilweise wird schon beklagt, dass Bruchrechnen, Dreisatz, diese Dinge tatsächlich noch nicht so sitzen, wie sie sitzen sollten.
Heinlein: Es entscheiden sich auch junge Menschen, Abiturienten für ein MINT-Studium, obwohl sie eigentlich gar nicht die Grundlagen haben für ein solches Studium?
Funk: Soweit würde ich jetzt nicht gehen. Ich sage mal, das Wichtige ist – und das gilt für die Naturwissenschaften genauso wie für die Ingenieurwissenschaften -, das Wichtige ist das Interesse am Fach. Wenn ich das Interesse am Fach habe und für meine Disziplin habe, dann gibt es ja mittlerweile auch Angebote, sich die Wege zu erarbeiten.
Heinlein: Wie passt das, Herr Funk, denn zusammen, auf der einen Seite ein sinkendes Niveau an den Schulen, teilweise zumindest, wie Sie gesagt haben, auf der anderen Seite ein steigendes Interesse an den MINT-Fächern?
Funk: Das ist ja kein Widerspruch. Nochmal: Das Interesse an den MINT-Fächern ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass es gelungen ist, diese Berufe, die es da gibt, einerseits attraktiv zu machen, andererseits auch attraktiv darzustellen. Daran sollte man nicht locker lassen, sollte da sollte man entsprechend auch weiterarbeiten. Das Angebot der Hochschulen in Deutschland – ich hatte es vorhin gesagt -, das ist grundsätzlich ja gut. Im Detail gibt es da ganz viel, was zu verbessern gilt und was zu diskutieren gilt. Aber in Summe ist es ein gutes Angebot und die Absolventen, die wir haben, die sind weltweit gut angesehen, die haben hervorragende Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Von daher sehe ich da im Moment keinen Widerspruch.
Abbrecherquoten sind gesunken
Heinlein: Wie hoch ist denn die Abbrecherquote in Ihren Fächern? Geben da viele frustriert auf, schon in den ersten Semestern, weil sie es einfach nicht schaffen?
Funk: Auch dazu gibt es in jüngster Zeit ja erfreuliche Zahlen. Die Ingenieurwissenschaften sind ja quasi berühmt dafür, dass sie hohe Abbrecherquoten haben, teilweise von über 50 Prozent. Auch diese Zahlen sind deutlich gesunken. Wir sind im Moment bei Abbrecherquoten im Durchschnitt von gut 30 Prozent in den Ingenieurwissenschaften.
Heinlein: Frage zum Schluss, Herr Funk. Ein Schatten fällt auf diese OECD-Studie. Noch immer studieren deutlich weniger Frauen ein MINT-Fach. Ihr Anteil liegt bei unter 30 Prozent. Was muss denn getan werden, um den weiblichen Anteil in diesen Bereichen zu steigern?
Funk: Ja, das ist in der Tat ein Feld, wo wir noch weiter arbeiten müssen. International ist der Frauenanteil immer noch sehr gering. Sie haben es gerade gesagt. Er ist gestiegen in den letzten Jahren und er ist dann gestiegen, wenn es gelungen ist, auch entsprechend Vorbilder zu schaffen. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, das geht schon in der Schule los, wenn ich werbe für ein Studium, dass es nicht immer der Mann ist, der Ingenieur, der in die Schule kommt und darüber berichtet, sondern dass die Ingenieurin auch mal über ihren Beruf berichtet. Das gilt für die anderen Berufe auch. Vorbilder schaffen, in der Berufsberatung auf die geschlechterspezifischen Spezifika stärker einzugehen, das sind sicherlich Dinge, wo wir noch weiter dran arbeiten müssen.
"Im internationalen Vergleich ist der Frauenanteil immer noch sehr gering"
Heinlein: Können Sie uns dennoch erklären, woher diese Scheu kommt von Frauen vor Mathe und Naturwissenschaften? Gerade Ingenieurswissenschaften, der Ingenieurberuf scheint ja eine der letzten Männerbastionen noch zu sein.
Funk: Na ja, das war zumindest in der alten Bundesrepublik tief in der Gesellschaft verwurzelt, dass das ein Männerberuf ist und dass das für Frauen sich ja fast schon nicht gehörte, zumindest im Mainstream, in diese Berufe zu gehen. In der DDR zum Beispiel war das ja ganz anders. Auch in anderen Nachbarländern war das anders. Das ist eine gesellschaftliche Veränderung, die da stattfindet, und die braucht auch viel Zeit. Auch da ist es so, dass der Trend ja in die richtige Richtung geht. Vor 20 Jahren war der Frauenanteil im Maschinenbau bei fünf Prozent, heute ist er bei 25 Prozent. Der Anteil entwickelt sich ja in die richtige Richtung. Im internationalen Vergleich, das muss man zugeben, ist er immer noch sehr gering.
Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen Lars Funk vom Verein Deutscher Ingenieure. Herr Funk, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören.
Funk: Sehr gerne! Auf Wiederhören.
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