Stefan Koldehoff: Sie klingen beunruhigend, die Zahlen, die gestern in einer Studie des "Forschungsverbundes SED-Staat" an der FU Berlin vorgestellt wurden: Die Autoren haben bei rund 7000 Schülerinnen und Schülern erstmals vergleichend ermittelt, was Jugendliche über den Nationalsozialismus, die DDR, die alte Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland wissen – und, mindestens ebenso wichtig, wie sie über historisches Geschehen urteilen. In der Zusammenfassung der Studie heißt es dazu – ich zitiere: "Am meisten wissen die Schüler über den Nationalsozialismus, am wenigsten über das wiedervereinigte Deutschland. Die Kenntnisse über die "alte" Bundesrepublik und die DDR sind im Vergleich zu denen über den Nationalsozialismus ebenfalls deutlich geringer. Unerwartet schwach fallen die Kenntnisse über das wiedervereinigte Deutschland aus." Und – weitere Erkenntnis: Je weniger Wissen, desto grotesker die Bewertungen. Knapp jeder vierte Befragte hält der Studie zufolge den Nationalsozialismus für durch demokratische Wahlen legitimiert, und knapp jeder Dritte attestiert dies auch der DDR. Nur etwa drei Viertel der befragten Schüler gehen aber davon aus, dass die alte und die neue Bundesrepublik durch demokratische Wahlen legitimiert war und ist.
Am Telefon ist der Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands, Dr. Peter Lautzas. Herr Lautzas, können Sie zunächst einmal die Ergebnisse der Studie anhand Ihrer Praxis als Lehrer nachvollziehen?
Peter Lautzas: Also ich habe eine gewisse Zurückhaltung demgegenüber. Natürlich ist das nach bestem Wissen und Gewissen gemacht worden, jedoch sind vor allen Dingen auch in der Presseformulierung die formulierten Schlussfolgerungen nicht differenziert genug, um der Schule weiterzuhelfen. Sie erwecken Panik, als wären die Schüler völlig uninformiert, und das stimmt so nicht, da sind eine Reihe Missverständnisse drin.
Koldehoff: Geben Sie mal ein Beispiel, was ist missverständlich?
Lautzas: Zum Beispiel Nationalsozialismus – da ist die Frage, ist der legitim an die Macht gekommen. Die Frage ist für einen Schüler, der Bescheid weiß – und viele wissen durchaus Bescheid -, natürlich zu undifferenziert, denn es ist ja aufgrund von Wahlen passiert. Nur dass dann hinterher eine, sagen wir mal, ganz rigorose Machtaneignung erfolgt ist bis hin zu fast totalitären oder bestimmt totalitären Formen, geht aus der Frage nicht hervor. Also gerade ein Schüler, der gut nachdenkt, könnte hier auf eine falsche Fährte kommen. Und so sind viele Fragen, die sind noch ein bisschen zu unscharf für die Praxis.
Koldehoff: Ist denn alles in Ordnung mit dem Geschichtsunterricht an deutschen Schulen zurzeit?
Lautzas: Na das nun auch wieder nicht. Also ich meine, es wäre vermessen zu behaupten, dass wir nicht mehr verbesserungsfähig wären. Ich will nur zwei, drei Punkte herausgreifen: Das eine ist, dass in vielen Ländern der Geschichtsunterricht teilweise reduziert und teilweise mit anderen Fächern zusammengelegt wird, Gesellschaftswissenschaften und so weiter, und das ist natürlich verheerend. Wir brauchen ein Minimum von zwei Stunden wöchentlich Geschichtsunterricht in allen Jahrgangsstufen. Wenn das nicht realisiert ist, passieren solche Pannen, wie sie hier im Moment aufgezeigt wurden.
Das zweite ist: Wir müssen der Nachhaltigkeit des Wissens und der Kompetenzen mehr Aufmerksamkeit schenken, Wiederholungsphasen einbauen. Das sind alles Dinge, die wirklich uns zu denken geben sollten.
Koldehoff: Da wird Ihnen wahrscheinlich jetzt jeder Schulleiter oder jeder Fachbereichsleiter antworten, wie soll ich das denn noch schaffen bei G8, bei der Verkürzung. Es gibt viele Schulen – ich spreche da aus eigener Erfahrung -, in denen nur noch alle zwei oder drei Halbjahre überhaupt Geschichtsunterricht erteilt wird. Das heißt, Kontinuitäten sind da kaum mehr zu vermitteln.
Lautzas: Da haben Sie recht, ohne weiteres. Das ist zu prüfen, und wenn acht Jahre nicht ausreichen, dann muss man eben wieder, was ja viele Länder inzwischen mindestens fakultativ auch tun, auf neun gehen.
Koldehoff: Ist das eine Forderung, die Ihr Verband vertritt?
Lautzas: Ja. – Was noch ein anderes Problem ist, dass die anderen Fächer früher, sagen wir mal, Englisch, Deutsch und so weiter, durchaus historische Teile hatten, die auch zunehmend weggefallen sind, und das verschlechtert die Lage dann noch mal zusätzlich.
Koldehoff: Eine der Forderungen der Studie, über die wir sprechen, lautet: "Stärkerer öffentlicher Diskurs nicht nur über den Diktaturcharakter des Nationalsozialismus, sondern auch über den der DDR". Nun ist das vielleicht wenig verwunderlich, diese Forderung zu hören, denn die Studie wurde erhoben vom "Forschungsverbund SED-Staat" an der FU Berlin. Droht uns da so etwas wie ein neuer Historikerstreit oder eine neue Totalitarismusdebatte, was denn nun wie zu gewichten sei?
Lautzas: Also in der Sache ist das müßig, würde ich sagen. Auf der anderen Seite hoffe ich nicht, dass das ein Riesendiskurs wieder wird, denn die Sachlage ist ja klar: Die DDR war eine Diktatur – basta! Und die ganzen Wortklaubereien hin und her bringen uns keinen Schritt weiter. Wenn gewisse Erkenntnisprobleme hinsichtlich der DDR zum Beispiel vorhanden sind, dann muss man die gezielt angehen, aber dieser Streit, ob Diktatur oder nicht, den halte ich für müßig.
Koldehoff: Was wird Ihr Verband jetzt mit dieser Studie anstellen?
Lautzas: Na ja, zunächst mal sehr aufmerksam zur Kenntnis nehmen und in die Öffentlichkeit wirken, und vor allen Dingen für Differenzierung sorgen und für die Übersetzung in die schulische Praxis, um hier wirklich eine ganze Menge von möglichen Missverständnissen zu vermeiden und aufzupassen, dass die Sache nicht in die falsche Richtung geht in der Diskussion.
Koldehoff: Der Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands, Peter Lautzas, war das. Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Am Telefon ist der Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands, Dr. Peter Lautzas. Herr Lautzas, können Sie zunächst einmal die Ergebnisse der Studie anhand Ihrer Praxis als Lehrer nachvollziehen?
Peter Lautzas: Also ich habe eine gewisse Zurückhaltung demgegenüber. Natürlich ist das nach bestem Wissen und Gewissen gemacht worden, jedoch sind vor allen Dingen auch in der Presseformulierung die formulierten Schlussfolgerungen nicht differenziert genug, um der Schule weiterzuhelfen. Sie erwecken Panik, als wären die Schüler völlig uninformiert, und das stimmt so nicht, da sind eine Reihe Missverständnisse drin.
Koldehoff: Geben Sie mal ein Beispiel, was ist missverständlich?
Lautzas: Zum Beispiel Nationalsozialismus – da ist die Frage, ist der legitim an die Macht gekommen. Die Frage ist für einen Schüler, der Bescheid weiß – und viele wissen durchaus Bescheid -, natürlich zu undifferenziert, denn es ist ja aufgrund von Wahlen passiert. Nur dass dann hinterher eine, sagen wir mal, ganz rigorose Machtaneignung erfolgt ist bis hin zu fast totalitären oder bestimmt totalitären Formen, geht aus der Frage nicht hervor. Also gerade ein Schüler, der gut nachdenkt, könnte hier auf eine falsche Fährte kommen. Und so sind viele Fragen, die sind noch ein bisschen zu unscharf für die Praxis.
Koldehoff: Ist denn alles in Ordnung mit dem Geschichtsunterricht an deutschen Schulen zurzeit?
Lautzas: Na das nun auch wieder nicht. Also ich meine, es wäre vermessen zu behaupten, dass wir nicht mehr verbesserungsfähig wären. Ich will nur zwei, drei Punkte herausgreifen: Das eine ist, dass in vielen Ländern der Geschichtsunterricht teilweise reduziert und teilweise mit anderen Fächern zusammengelegt wird, Gesellschaftswissenschaften und so weiter, und das ist natürlich verheerend. Wir brauchen ein Minimum von zwei Stunden wöchentlich Geschichtsunterricht in allen Jahrgangsstufen. Wenn das nicht realisiert ist, passieren solche Pannen, wie sie hier im Moment aufgezeigt wurden.
Das zweite ist: Wir müssen der Nachhaltigkeit des Wissens und der Kompetenzen mehr Aufmerksamkeit schenken, Wiederholungsphasen einbauen. Das sind alles Dinge, die wirklich uns zu denken geben sollten.
Koldehoff: Da wird Ihnen wahrscheinlich jetzt jeder Schulleiter oder jeder Fachbereichsleiter antworten, wie soll ich das denn noch schaffen bei G8, bei der Verkürzung. Es gibt viele Schulen – ich spreche da aus eigener Erfahrung -, in denen nur noch alle zwei oder drei Halbjahre überhaupt Geschichtsunterricht erteilt wird. Das heißt, Kontinuitäten sind da kaum mehr zu vermitteln.
Lautzas: Da haben Sie recht, ohne weiteres. Das ist zu prüfen, und wenn acht Jahre nicht ausreichen, dann muss man eben wieder, was ja viele Länder inzwischen mindestens fakultativ auch tun, auf neun gehen.
Koldehoff: Ist das eine Forderung, die Ihr Verband vertritt?
Lautzas: Ja. – Was noch ein anderes Problem ist, dass die anderen Fächer früher, sagen wir mal, Englisch, Deutsch und so weiter, durchaus historische Teile hatten, die auch zunehmend weggefallen sind, und das verschlechtert die Lage dann noch mal zusätzlich.
Koldehoff: Eine der Forderungen der Studie, über die wir sprechen, lautet: "Stärkerer öffentlicher Diskurs nicht nur über den Diktaturcharakter des Nationalsozialismus, sondern auch über den der DDR". Nun ist das vielleicht wenig verwunderlich, diese Forderung zu hören, denn die Studie wurde erhoben vom "Forschungsverbund SED-Staat" an der FU Berlin. Droht uns da so etwas wie ein neuer Historikerstreit oder eine neue Totalitarismusdebatte, was denn nun wie zu gewichten sei?
Lautzas: Also in der Sache ist das müßig, würde ich sagen. Auf der anderen Seite hoffe ich nicht, dass das ein Riesendiskurs wieder wird, denn die Sachlage ist ja klar: Die DDR war eine Diktatur – basta! Und die ganzen Wortklaubereien hin und her bringen uns keinen Schritt weiter. Wenn gewisse Erkenntnisprobleme hinsichtlich der DDR zum Beispiel vorhanden sind, dann muss man die gezielt angehen, aber dieser Streit, ob Diktatur oder nicht, den halte ich für müßig.
Koldehoff: Was wird Ihr Verband jetzt mit dieser Studie anstellen?
Lautzas: Na ja, zunächst mal sehr aufmerksam zur Kenntnis nehmen und in die Öffentlichkeit wirken, und vor allen Dingen für Differenzierung sorgen und für die Übersetzung in die schulische Praxis, um hier wirklich eine ganze Menge von möglichen Missverständnissen zu vermeiden und aufzupassen, dass die Sache nicht in die falsche Richtung geht in der Diskussion.
Koldehoff: Der Vorsitzende des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands, Peter Lautzas, war das. Vielen Dank.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.