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Mehr Zuflucht als Glück

Der Klang der Zeiten? Er ist im Grunde immer gleich. Die Noten werden nur neu gemischt. Richard Powers, Physiker, Computerprogrammierer, Cellist und Romancier hat für seinen neuen, seinen achten Roman 1000 Jahre Musikgeschichte Revue passieren lassen und schreibt:

Richard Powers im Gespräch mit Brigitte Neumann |
    Der Vampir der Musik geistert durch die Jahrhunderte und ist nicht im Mindesten wählerisch, wessen Adern er aussaugt. Alles, was Blut in sich hat, ist diesem Untoten recht, jede Transfusion, die ihn ein weiteres Jahr auf den Beinen hält.
    Musik ist für Powers der Ort höchsten Glücks. Und er hat sie während des vierjährigen Schreibprozesses an "Klang der Zeit" täglich ausgiebig genießen dürfen. Für die Hauptpersonen seiner Geschichte ist Musik etwas anderes. Mehr Zuflucht als Glück. Sie haben die Hoffnung, dass Musik dieser Ort sein könnte, wo die Hautfarbe nicht mehr zählt.

    Die schwarze Sängerin Deliah, der vor den Nazis geflohene deutsche Jude, der Physiker David Strom und ihre drei Kinder bauen sich ein Exil aus Musik. Das musikalische Genie ihres ältesten Sohnes zerstört diese Idylle. Mit seinem Gang aufs Konservatorium haben die täglichen Hausmusikabende ein Ende. Die sonderbare Mischlingsfamilie stellt sich der gesellschaftlichen Realität. Wie kommt der 47-jährige Richard Powers dazu, einen Roman über Rassismus zu schreiben?

    Auslöser war, dass ich eines Morgens eine Zeitungsnotiz fand über den enorm mutigen Auftritt der Schwarzen Marian Anderson, mit dem sie damals klar machte, dass die europäische Tradition klassischer Musik auch ihr gehörte. Nachdem alle großen Konzerthäuser Amerikas sie wegen ihrer Hautfarbe abgelehnt hatten, sang sie Ostern 1939 open air und umsonst in Washington. Sie eröffnete ihr Konzert mit der patriotischen Hymne: "My Country tis of thee, sweet land of liberty, of thee I sing!" Welch ein Signal an die Zukunft ihr Auftritt war! In diesem Moment wurde mir klar: Wie europäisch unsere Kultur auch immer ist, sie ist auch zutiefst afrikanisch.

    David Stroms Familie stirbt, als Hitler Polen besetzt, und er kämpft dagegen an mit neuen Zeittheorien, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Jetzt gelöst sind. Aber Trost findet weder darin noch in der Familie seiner Frau, die mit ihrem eigenen Leid beschäftigt ist. Denn zeitgleich gärt in Amerika der Rassenhass. "Stamm gegen Stamm," schreibt Powers "das ist es doch, was sie wollen. Etwas woran man sich festhalten kann. Immer geht es darum, wer dazugehört und wer nicht."

    Wir gründen unsere Identität auf den Vergleich mit etwas Ähnlichem. Fakt ist aber: Niemand ist identisch mit irgendjemand anderem. Das Problem mit der Identität ist, dass es eine enorme Versuchung gibt, zu sagen: Ich bin wer ich bin, denn ich gehöre nicht zu denen. Viele definieren sich über Opposition. Mein Buch erforscht, inwieweit der Rassismus, der - wie wir alle wissen, zu einem gewissen Grad auf der Angst vor dem Unterschied basiert, nicht auch motiviert ist durch die Angst Gleichheit zu entdecken. Wir sind sehr bemüht, unsere Identität als etwas Eigenes zu bewahren, weil vielleicht die Befürchtung da ist, sich da zu verlieren, wo Verschiedenheit sich mischt.

    Es war der schwierigste Roman von allen, sagt Powers. Viel komplizierter als seine Bücher über Genetik, über virtuelle Realität und fühlende Computer. Ein Thema, vielleicht auch deshalb so schwer in den Griff zu kriegen, weil Menschen offenbar besser darin sind, ihre Technologien fortzuentwickeln als ihre Weisheit?

    Aber genau deshalb schreibe ich Romane. Ich denke, das ist die wichtige Aufgabe der Schriftsteller heute, einen gründlichen Blick darauf zu werfen, wie Menschen durch ihre Technologien Zeit und Raum verändert haben und dabei zu helfen, dass die menschliche Psyche diesen Entwicklungen hinterher kommt. Genau das ist meines Erachtens auch der Sinn von Literatur: zu zeigen, wie der Mensch seinen technischen Fortschritt mental aufholen kann.

    Richard Powers, ein Autor von enzyklopädischer Beschlagenheit, ist ein überhaupt nicht naiver, aber zutiefst humanistischer Träumer. Er ist ein moderner Aufklärer. Das was er schreibt, so sagt er es selbst, steht in der Tradition sozialrealistischer Literatur. Am Ende zeigt er im "Klang der Zeit" ein Amerika, wie es heute ist: Schwarze und Weiße leben in ihren Ghettos, jetzt freiwillig. "Seperate but equal" heißt die politische Devise. Richard Powers hält es für einen - vielleicht notwendigen - Zwischenschritt auf dem Weg zur Assimilierung der Rassen.

    In den USA gibt es diese Definition von Rasse, die Europäern sehr seltsam vorkommen muss: Die One-Drop-Rule - ein Blutstropfen entscheidet. Wenn ein Weißer irgendwo in seinem Stammbaum einen schwarzen Vorfahren hat, dann gilt er als Schwarzer. Er kann aussehen, als wäre er gerade erst aus Norwegen eingereist, er gilt als Schwarzer. So steht es zwar nicht mehr im Pass, aber bei den Volkszählungen wird das immer noch so gehandhabt. Die wunderbare Ironie der Geschichte allerdings ist, dass die Zeit der ethnisch reinen weißen Kultur genau wegen der One-Drop-Rule zu Ende geht. Die Zahl der Mischlinge wächst konstant. Irgendwann wird ganz Amerika schwarz sein.

    "Der Fisch und der Vogel können sich verlieben. Denn der Vogel kann sein Nest auf dem Wasser bauen, und der Fisch kann fliegen", schreibt Richard Powers in Abwandlung eines alten jüdischen Sprichworts.

    Sein eng bedrucktes, fast 800 Seiten langes, ziegelsteinschweres und mitreißendes Buch "Der Klang der Zeit" ist angelegt wie ein Rondo. Schlüsselereignisse wie das Konzert Marion Andersons kehren wie ein Refrain immer wieder, aber nie zwei Mal auf die gleiche Art. Die Ereignisse der dazwischen liegenden Zeit haben ihre Bedeutung verändert.

    Am Ende hat es Powers geschafft, jedem Leser das Gefühl zu geben, die Relativitätstheorie fast verstanden zu haben. Denn das, was Menschen miteinander anstellen, ist tatsächlich schwerer zu verstehen.