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Meilensteine für die Wissenschaft

Heute wird der erste Nobelpreis dieses Jahres vergeben - im Fach Medizin. Detlev Ganten, der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Berliner Charité, hebt die "symbolhafte Bedeutung" der Ehrung hervor. Nobelpreisträger seien vor allem Vorbilder für die Wissenschaft.

Detlev Ganten im Gespräch Mascha Drost | 03.10.2011
    Mascha Drost: Seit 1901, seit 110 Jahren werden alljährlich die Nobelpreise verliehen. Laut des Testaments Alfred Nobels an diejenigen, die im verflossenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen geleistet haben. Vergeben wird er in den Gebieten der Chemie, Medizin, Physik, Literatur und Friedensbemühung.

    Diese Woche werden die diesjährigen Preisträger bekanntgegeben und aus Anlass dazu habe ich ein Gespräch mit dem Evolutionsmediziner und ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Charité geführt, Dr. Detlev Ganten, und ihn zuerst gefragt, warum denn die Preise oft erst so viel später vergeben werden?

    Der erste Physikpreisträger war Konrad Röntgen, der die Röntgenstrahlen schon Jahre vorher entdeckte, Albert Einstein erhielt ihn 1922 für die Erklärung des photoelektrischen Effekts. Das entspricht ja nicht ganz dem Wunsch Nobels, demjenigen einen Preis zu verleihen, der im verflossenen Jahr den größten Nutzen geleistet hat?

    Detlev Ganten: Das ist richtig, Nobelpreise werden natürlich vergeben für Ergebnisse und an Wissenschaftler, bei denen sichergestellt ist, dass es sich nicht um gewissermaßen ephemere, tagesinteressante Ergebnisse handelt, sondern dass sie wirklich Meilensteine sind, die die Wissenschaft vorangebracht haben. Und das ist in der Wissenschaft gar nicht so einfach immer zu beurteilen. Man ist dann plötzlich ganz aufgeregt, weil etwas ganz Neues gefunden wurde. Und dann stellt sich heraus, entweder in der Wiederholung sieht es dann etwas anders aus, als man es sich ursprünglich in der ersten Publikation vorgestellt hat, oder die Bedeutung ist dann doch nicht ganz so grundsätzlich, wie die Erstautoren und die Beurteiler in der ersten Phase das gesehen haben. Und der Wert der Nobelpreise liegt natürlich darin, dass es wirklich die Meilensteine sind, es sind die großen Entdeckungen, die durch die Nobelpreise dann auch bewertet und belohnt und gewissermaßen anerkannt werden.

    Drost: Ist der Nobelpreis dann trotzdem Ansporn für jeden Wissenschaftler, auch wenn er weiß, dass er für seine Entdeckung erst Jahre oder Jahrzehnte ausgezeichnet wird? Oder noch direkter: Ist er überhaupt Ansporn?

    Ganten: Ja, er ist Ansporn. Nobelpreis ist ja so was wie ein Symbol auch inzwischen geworden in der der langen Zeit über 100 Jahre. Das sind einfach Vorbilder. Und das Nobelpreis-Komitee hat es offensichtlich ja auch geschafft, nicht nur die kauzigen Wissenschaftler, die auch große Entdeckungen machen, sondern auch Persönlichkeiten häufig zu ehren, die auch Vorbilder dann sein können für junge Leute. Insofern ist es eine symbolhafte Bedeutung natürlich auch. Es wird immer gesagt, viele verdienen die Nobelpreise und einige können es nur kriegen, in Medizin immer nur einer oder zwei, maximal drei pro Jahr. Das zeigt aber dann eben auch gleichzeitig, dass sie diese symbolhafte Bedeutung auch haben.

    Drost: Bei der Vorbereitung auf unser Gespräch, da habe ich ein bisschen simpelste Rechnerei betrieben und einmal deutsche und amerikanische Nobelpreisträger ins Verhältnis gesetzt. Chemie ist da ein ganz gutes Beispiel: USA hat 60 Preisträger, Deutschland 28. Allerdings 16 der deutschen Preise fallen in die ersten 30 Jahre, also bis 1941, das sind fast 60 Prozent, bei den USA sind es in den ersten 30 Jahren nur drei Preise, also drei Preise von 60. Bei Physik und Medizin ist das ganz ähnlich. Eine wichtige Erklärung ist natürlich die Auswanderung von deutschen Wissenschaftlern in die USA während der Nazi-Zeit, aber das kann doch nicht alles sein. Es ist jetzt 70 Jahre her, da hätte Deutschland doch annähernd wieder gleichziehen können?

    Ganten: Ja. Nun ist Deutschland in der Bilanz, wenn man es mit anderen Ländern vergleicht, immer noch in einer respektablen Position. Aber es ist richtig: Deutschland war um 1900 eine ganz große Forschungsnation, da wurde auch international Deutsch gesprochen, die Leute kamen nach Berlin und nach Göttingen und nach Heidelberg und nach München, in andere große Institute, und haben dort gelernt. Die Gewichte haben sich verschoben, ganz eindeutig, quantitativ, zum Teil auch qualitativ in einigen Bereichen und …

    Drost: … woran liegt das?

    Ganten: Ja, woran liegt das? Ich kann es Ihnen, also keiner kann Ihnen das wirklich sagen. Aber die Auswanderung der jüdischen Wissenschaftler von 33 bis 45 hat einen größeren Schaden angerichtet und der Krieg 45 hat viel, viel größeren Schaden angerichtet als gewissermaßen die Auswanderung der Einzelpersonen. Ehe wir in Deutschland wirklich wieder eine Wissenschaftsnation, eine Forschungsnation geworden sind, die mit USA, mit England, mit Frankreich, mit Japan und jetzt mit China auf gleichem Niveau ist, das ja lange dauert. Das hat 30, 40 Jahre auch nach dem Krieg gedauert, bis das alles wieder aufgebaut war.

    Drost: Welche Bedingungen braucht es denn für Wissenschaftler, um so zu forschen, dass am Ende vielleicht ein Nobelpreis steht, findet man die in Deutschland überhaupt?

    Ganten: Also, wir haben in Deutschland Bedingungen für herausragend gute Wissenschaft und es wird auch international anerkannt. Wenn man sich die Publikationen ansieht in den allerbesten Journalen, dann ist Deutschland eine der großen vier, fünf Wissenschaftsnationen, das ist inzwischen gar keine Frage mehr.

    Ehe das aber dann wirklich nachher zu Nobelpreisen und zu den herausragenden Preisen und Anerkennungen führt, das dauert dann noch mal wieder. Also ein wissenschaftliches Ergebnis wird heute erarbeitet und publiziert - das heißt, nicht heute, das dauert ja vier, fünf, sechs, sieben, zehn, 20 Jahre, bis eine große Publikation aus einer wissenschaftlichen Arbeit entsteht – und dann dauert es noch mal wieder einige Zeit, bis dann sich herausstellt, das ist wirklich der große Durchbruch, auf dem neue Ergebnisse, neue Anwendungen, neue Technologien fußen.

    Drost: Finden Sie denn, dass große, wichtige Forscher und Wissenschaftler in Deutschland genug Anerkennung finden? Also, jede Möchtegern-Schriftstellerin, wenn sie nur über ihr Intimleben Auskunft gibt, dann kommt sie in zig Talkshows, Zeitungen, Zeitschriften, aber die wichtigen Wissenschaftler hier kennt man ja gar nicht außerhalb der Branche?

    Ganten: Ja, da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Das eine ist, dass Wissenschaft natürlich viel, viel schwerer verständlich zu machen ist als irgendwelche pseudoliterarischen Erzählungen von interessanten Details. Das andere ist aber auch, dass Wissenschaftler natürlich vom Wesen her kritisch und selbstkritisch sind und Wissenschaftler sich nicht primär mit ihren Ergebnissen so präsentieren und als die großen Volkshelden und die großen Popularisierer ihrer Zunft sich gerne darstellen. Das hat ein bisschen was mit dem Selbstverständnis der Wissenschaft zu tun.

    Aber wir haben das erkannt, Sie haben vielleicht wahrgenommen, also im letzten Jahr 2010 haben wir in Berlin das Jahr der Wissenschaft gehabt, da hatte die Charité 300 Jahre Jubiläum, Humboldt 200, Akademie der Wissenschaften 300, Stiftung Preußischer Kulturbesitz 350 Jahre Bibliothek und ganz Berlin hat gefeiert, das ging in die Bevölkerung hinein. Und das war schon ein Ziel auch, Wissenschaft als eine verständliche Form der kritischen und selbstkritischen Beschäftigung mit wichtigen Themen der Zeit darzustellen. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, die großen Forschungsorganisationen haben das erkannt, es gibt eine eigene Organisation der Wissenschaften, nennt sich Wissenschaften im Dialog, die genau das zum Ziel hat, Wissenschaft deutlich zu machen und gewissermaßen runter zu holen von diesem hohen akademischen Sockel und deutlich zu machen: Wissenschaftler heißt nicht, im Labor im Kittel zu arbeiten und Professor zu sein, sondern Wissenschaft heißt, sich kritisch und selbstkritisch mit Problemen auseinanderzusetzen und Lösungen zu suchen. Und das macht jedes Kind, das macht eigentlich jeder, aber dieser allgemeine Anspruch der Wissenschaft und das wissenschaftliche Herangehen an Probleme wird immer noch überhöht. Und das müssen wir viel deutlicher machen, als das in anderen Ländern beispielsweise gemacht wird.

    Drost: Wird es für einen Wissenschaftler eigentlich leichter oder schwerer, seiner Forschung nachzugehen, nachdem er den Nobelpreis bekommen hat? Beflügelt er oder erzeugt er eher Druck?

    Ganten: Das beflügelt natürlich. Es gibt auch Geld und es gibt eine … zunächst mal dafür, das die meisten Wissenschaftler ja dann in die Forschung wieder hineinstecken, es ist dann leichter, auch das Geld für die eigenen Forschungsprogramme zu bekommen. Es ist auch leichter dann natürlich, weil man so prominent ist, gute Forscher anzuziehen in sein Labor. Also, insofern ist das ganz sicher ein Stimulus für den Einzelnen, aber auch für die Arbeitsgruppe, die ja meistens auch hinter einem solchen Forscher steht.

    Drost: Detlev Ganten in "Information und Musik" im Deutschlandfunk.


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