Archiv


"Mein Kampf" zerschnipselt, zerhackt, zerfetzt

Im Gegensatz zu Deutschland, wo Hitlers "Mein Kampf" nur zu wissenschaftlichen Zwecken einsehbar ist, sieht das in Frankreich ganz anders aus. Das Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände zeigt eine Ausstellung der französischen Künstlerin Linda Ellia. Sie hat Hitlers Pamphlet auf kreative Weise verwandelt.

Von Thomas Senne |
    Hier war es gewesen. Nur ein paar Schritte vom aktuellen Ausstellungsort entfernt hatte Hitler seine unsäglichen Auftritte bei den Nürnberger Reichsparteitagen. Hier hatte er seine Anhänger mit dumpfen Parolen auf seine Ideologie eingeschworen. Jetzt steht in der unvollendet gebliebenen Kongresshalle - im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände - die Schrift des braunen Diktators im Mittelpunkt, die den "Führer" zum Millionär machte, obwohl sie für Millionen der Fahrplan in den sicheren Tod gewesen war: Hitlers "Mein Kampf".

    "Die jüdische Künstlerin aus Paris hat so ein Buch aufgefunden und wollte darauf reagieren. Hat es zuerst zu ihrem persönlichen Kampf gemacht und hat dann nach 50 Seiten, die sie gestaltet und bemalt und gezeichnet hat, das Ganze auch Freunden, Bekannten und anderen Künstlern gegeben. Und so wird aus ihrem künstlerischen Werk dann 'Unser Kampf', also der Kampf der Künstler mit dem Buch."

    Meint Alexander Schmidt vom Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände und verweist auf Erstausgaben der 1925/26 und später als Volksedition erschienen Hetzschrift mit ihren obskuren Vernichtungsfantasien und Textpassagen.

    Jetzt sind ein paar Exemplare von "Mein Kampf" in Vitrinen zu sehen. Vor allem aber beeindrucken die Besucher an den Wänden der Schau über 500 künstlerisch gestaltete Seiten aus einer französischen Übersetzung des Pamphlets, einzelne Blätter, die je nach ihrer Gestaltung in Rubriken wie "Ermordung", "Deportation" oder "Vom Menschen zur Nummer" unterteilt sind: ein später Triumph über den Nationalsozialismus, den Linda Ellia auf unkonventionelle Weise, ja spielerisch, erreicht hat.

    "Ich denke, sie hatte das Ziel, Hitlers Ideologie mit Kunst platt zu machen. Es hat auch etwas Zerstörerisches, bei aller Kreativität. Viele der Arbeiten zerschnippeln, zerhacken, zerfetzen auch eine Seite. Manche übermalen sie komplett. Also es geht, glaube ich auch, um einen Sieg mit Kunst über diese Ideologie."

    Mal erscheint der Tod auf den Bildern in Hakenkreuzform, mal tritt Hitler als fratzenhafter Dämon auf, mal ist er in einem dreidimensionalen Objekt als Miniaturpüppchen zu finden und ruht dort in einem Sarg auf den Schnipseln von "Mein Kampf". Mal sind Seiten zerrissen oder zerschnitten, mal mit Farbe bekleckert oder mit Stacheldraht versehen. Der Berliner Künstler Jonathan Meese hat sich als "Dr. No" stilisiert und antwortet schrill und anarchisch auf das Elaborat des "Führers". Aber nicht nur professionelle Kunstschaffende, sagt Alexander Schmidt, haben bei der Aktion von Linda Ellia mitgemacht.

    "Sie hat die Seiten genommen, die sie angesprochen haben - vielleicht ein Wort, vielleicht eine Überschrift, vielleicht auch einfach zufällig - und hat das genauso auch verteilt. Also, es geht hier nicht darum systematisch jetzt ein Buch abzuarbeiten, sondern eben als Künstler darauf zu reagieren. Und das heißt sicher nicht, sich dem System Hitlers anzupassen, sondern seinen eigenen Weg durch das Buch zu finden."

    Auch Kinder haben Seiten von "Mein Kampf" fantasievoll bekritzelt und so gewissermaßen unschädlich gemacht. Besonders eindrucksvoll: Eine Textcollage mit Judenstern und KZ-Nummer eines NS-Opfers, das den Holocaust überlebt und mit rotem Stift auf seine Arbeit notiert hat: "Das Leben ist stärker als der Tod". Ein Sieg über Unmenschlichkeit mithilfe der Kunst.