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Mein Klassiker
Christian Berkel: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"

Christian Berkel, 1957 in Berlin geboren, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. In Frankreich aufgewachsen, drehte er schon als 19-Jähriger mit Ingmar Bergman. Später machte er auch in Deutschland Karriere, auf der Bühne, der Leinwand und im TV. Sein Klassiker ist ein Stück Weltliteratur von 4.000 Seiten, das man getrost als ultimativen Gegenentwurf zu unserer oft verfluchten, schnelllebigen Zeit auffassen kann: Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit".

Von Eric Leimann |
    Der Schauspieler Christian Berkel
    Der Schauspieler Christian Berkel (imago / Metodi Popow)
    Mein Name ist Christian Berkel, ich bin Schauspieler, und mein Klassiker ist ein Roman beziehungsweise ein Romanzyklus von dem französischen Autor Marcel Proust: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit".
    "Es schwindelte mir, wenn ich unter mir und trotz allem in mir, als sei ich viele Meilen hoch, so viele Jahre erblickte."
    Als ich das erste Mal versucht habe, diesen Roman zu lesen oder ihn lesen musste in der Schule mit 16 in Frankreich, habe ich eigentlich überhaupt nichts verstanden, fand das total langweilig, dachte: Worum geht's hier überhaupt? Und habe das Buch nach 25 Seiten oder so genervt in die Ecke geschmissen.
    "Manchmal verwandelt man alle Seelenkräfte in Grazie und Glanz, nur um auf Wesen einzuwirken, von denen wir feststellen müssen, dass sie ihren Platz nun einmal außerhalb von uns haben und niemals für uns erreichbar sind."
    "Irgendwann entwickelte dieses Buch einen enormen Sog"
    Und dann, 1996 genau war das, habe ich gedacht, also - ich fuhr in die Ferien - ich nehme jetzt mal nur die ersten zwei Bände mit und sonst nichts. Und entweder lese ich in diesen Ferien diese Bände oder fange zumindest damit an - oder ich lese gar nichts. Und dazu muss man sagen: Ich lese in der Ferien immer sehr viel, also nicht lesen zu dürfen in der Ferien, wäre schon eine relativ große Strafe. Aber es war auch merkwürdigerweise eine Phase, wo es mir insgesamt nicht so wahnsinnig gut ging, ich war in irgend so einer Art Beziehungskrise, Lebenskrise und plötzlich irgendwann entwickelte dieses Buch einen enormen Sog und ich merkte, es geht tatsächlich in diesem Buch um die Frage: Was ist Erinnerung, was ist Kunst?
    "Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde; sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß. Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Beziehung zwischen Empfindungen und Erinnerungen."
    Also, Proust unterscheidet ganz wesentlich zwischen zwei Formen der Erinnerung, die eine nennt er die willkürliche Erinnerung, also die wir bewusst herbeiführen - wo war ich gestern, was habe ich da noch mal gemacht und so weiter - und die unwillkürliche Erinnerung, die durch irgendwas ausgelöst wird, die also vollkommen unbewusst ist. Und er sagt: Das ist eigentlich der Ursprung jeglicher Kreativität, wenn man der versucht nachzuforschen.
    "Aber das Glück kann nie kommen. Sind die Umstände endlich gefügig gemacht, so verlegt die Natur den Kampf von außen nach innen und bringt allmählich in unserm Herzen eine Wandlung hervor, sodass es etwas anderes wünscht, als was ihm zuteil werden wird."
    Eine Geschichte von Verlusten
    Das geht dann durch den ganzen, diesen siebenbändigen Zyklus - das sind fast 4.000 Seiten - da zieht sich das wie ein roter Faden durch. Ich hab's inzwischen noch mal gelesen, Jahre später, ich habe beim ersten Mal ziemlich lange gebraucht, ich glaube, insgesamt 18 Monate. Wer einen gewissen Spass daran hat, wie jemand ein Problem einfach noch mal und noch mal und noch mal umdreht und wie einen Stein versucht von allen Seiten anzugucken und sich nicht mit ersten schnellen Deutungen zufriedengibt, der kann ungeheuer viel aus diesem Buch ziehen.
    "Die Vergangenheit entflieht nicht, sie bleibt und verharrt bewegungslos ... Das Glück ist einzig heilsam für den Leib, die Kräfte des Geistes jedoch bringt der Schmerz zur Entfaltung."
    Es ist eine Geschichte des Erwachsenwerdens eigentlich und insofern im weitesten Sinne des Wortes eine Geschichte von Verlusten. Das Erwachsenwerden auch durchaus als Frustrations- und Depressionsvorgang und die Fähigkeit, das irgendwann anzunehmen.