Haoming Chen führt seine Familie über den Campus der Frankfurter Goethe-Universität. Vor der Bibliothek der Rechtswissenschaft bleibt er stehen. Haoming spricht Mandarin, seine Cousine fragt dazwischen. Mutter, Tante und Cousine sind zu Besuch gekommen aus Nan’Chong, einer Provinzstadt im Südwesten Chinas.
Bevor Haoming als Dr. jur. Chen in den nächsten Tagen dorthin zurückkehrt, will seine Familie einmal sehen: wo hat er die vergangenen sechs Jahre gelebt? Haoming, von Freunden und Kommilitonen einfach Chen genannt, erzählt von der Endphase seiner Promotion. Obwohl er sie inzwischen abgeschlossen hat, ist sie ihm noch sehr präsent: "Wie ein Robot, wie eine Maschine, jeden Tag, regelmäßig, gehe ich zu dieser Bibliothek. Da muss immer so die Zeitdruck bekämpfen, weil ich denke: Oh, an diesem Tag habe ich etwas geschrieben, habe ich etwas geschaffen."
"Korruptionsstrafbarkeit in Deutschland und China" - unter diesem Titel schrieb Chen knapp 200 Seiten darüber, wie unterschiedlich Korruption in beiden Ländern bestraft wird. Auf einer schattigen Bank im Park direkt hinter dem Campus-Gelände - Chens Lieblingsplatz - blättert er durch seine Arbeit: "Amtsunterschlagung ist zum Beispiel: Ein Polizeibeamter behauptet, er hat nur 100 Euro bekommen, aber eigentlich hat er 200 oder 300 Euro bei sich behalten, bekommen. Das ist sehr häufig in China und Amtsunterschlagung ist verschwunden in Deutschland seit 30, 40 Jahren. Und das ist ein kleine, kleine, kleine Punkt, die man herausgefunden hat, die für andere Leute ein bisschen neu, ein bisschen aufschlussreich ist. Und das ist, was die Doktorarbeit Sinn macht."
Deutsches Jura-System als Vorbild
Der Ländervergleich, sagt er, ebne ihm den Karriereweg an einer der großen Hochschulen in Hongkong, Shanghai oder Peking: "Die deutsche juristische System ist ein Vorbild in Asien."
Reporterin: "Deswegen hast Du dir gedacht, Du möchtest nach Deutschland gehen?"
Haoming Chen: "Absolut Ja. Im ersten Semester wurde ich schon informiert, dass die deutsche Recht ist am besten für China."
Deshalb lernte er Deutsch parallel zum Jura-Bachelor- und Masterstudium in China. Mit 26 Jahren kam er nach Frankfurt am Main und begann seine Promotion. Cornelius Prittwitz wurde sein Doktorvater. Zwischen zwei Vorlesungen in der Kaffeepause löcherte ihn Chen oft mit Fragen, sagt Prittwitz: "Fast jeder Doktorvater hat nicht genug Zeit für Gespräche. Besonders interessant ist, dass wir am Anfang sehr viel über die unterschiedlichen Rechtskulturen gesprochen haben; darüber haben wir lange und auch kontrovers gestritten. Das ist eine schwierige Phase, in jeder Doktorarbeit, dass man praktisch sein Thema in der richtigen Größenordnung wirklich findet. Das ist auch eine eigene wissenschaftliche Leistung, wo Herr Chen wirklich gezeigt hat, dass er ein echter Doktorand, ein echter Wissenschaftler ist."
Chen erinnert sich: "Tiefpunkt natürlich habe ich erlebt: Bis im dritten Jahr habe ich noch nix, eigentlich nix geschrieben. Und ich dachte: was habe ich gemacht, hier? Dann sage ich mir: ich muss beschleunigen. Und jetzt ist schon vorbei.
Sein Rückflugticket hat er bereits gekauft. In Kürze tritt der 31-Jährige eine PostDoc-Stelle in seiner Heimat an. Zum letzten Mal läuft er vom Park über den Campus zu seinem Doktorvater:
Reporterin: "Wenn Du jetzt zurück gehst nach China?"
Haoming Chen: "Werde ich hier bestimmt vermissen diese gute Luftqualität; das ist wirklich wie ein Paradies."
Reporterin: "Und was wirst du an der Uni vermissen?"
Haoming Chen: "In China ist so mit 18 und 19 Jahren Bachelorstudium, dann nach 4 Jahren Abschluss. Aber hier in Deutschland man kann hier langsam oder schnell machen, das ist egal. Hauptsache, Du bist glücklich."
Genaue Note steht noch nicht fest
Im Foyer des Hörsaalgebäudes verabschiedet sich Chen von Prittwitz. Der Doktorvater: "Ich kann bei der Gelegenheit Herrn Chen auch sagen, dass die Arbeit nicht nur bestanden, sondern besser als bestanden ist. Die genaue Note steht noch nicht fest. Es ist jedenfalls eine gelungene Arbeit, eine verdienstvolle Arbeit, herzustellen für jemanden, der Deutsch nicht als Muttersprache hat, eine außerordentliche Herausforderung ist. Große Leistung!"
"Ich wünsche, dass wie wir diskutiert haben, auch in dem, wie Sie es Ihren Schülern sagen, Herr Chen, sich dann noch wiederfindet, und zwar nicht nur nächstes Jahr, sondern auch in 5 und in 10 Jahren noch."
Trennen muss sich Haoming Chen auch von seinen Freunden. Die meisten hat er in einem Club für lateinamerikanischen Tanz kennengelernt. "Heute ist mein letztes Mal. Schade!" Tanz strenge den Körper, Wissenschaft den Kopf an, sagt Chen. Aber beiden sei gemeinsam: "Tanzen ist immer Bewegung. Ich glaube, das ist auch Wissenschaft: Immer wieder nach etwas Neues zu suchen."
Ein letzter Tanz mit seiner Partnerin Frida. Auch sein Trainer Mario Radinger ist nochmal da: "Du gehst doch bald und deswegen würden wir dir gerne als Gruppe Lebewohl sagen. Ready, und: Cha! Cha! Cha!!" - Für Dich, Chen, danke, dass du da warst!" Die Gruppe applaudiert.