Schon Redaktionspraktikantinnen und -praktikanten lernen in ihrer ersten Woche: Wenn sie einen Bericht oder eine Meldung schreiben, hat ihre persönliche Meinung in dem Text nichts zu suchen. Das fängt bei der Sprache an. Selbst einzelne Wörter wie "sogar" oder "leider" geben die Einstellung des Verfassers preis und werden von guten Redakteurinnen und Redakteuren konsequent wegredigiert.
Zwar gibt es keine absolute Objektivität, aber sie bleibt doch das Ideal des Journalismus: Gute Berichterstattung liefert die Fakten, damit die Leser- und Hörerschaft sich darauf basierend eine eigene Meinung bilden kann.
Andererseits haben natürlich auch Journalistinnen und Journalisten eine Meinung zu den Tatsachen, über die sie berichten, und da sie sich meist langfristig und tiefergehend mit einem Thema beschäftigen, ist ihre Einschätzung mitunter interessant und aussagekräftig. Deswegen gibt es in Radio, Fernsehen und Zeitung ein eigenes Format, das Platz für Thesen, Argumente und Positionen bietet: den Kommentar. Er ist deutlich als solcher gekennzeichnet und spiegelt die persönliche Meinung desjenigen wieder, der ihn verfasst hat.
Wissen um journalistische Formen fehlt
Kommentare finden sich natürlich auch woanders, zum Beispiel in Facebook-Posts oder Politiker-Statements. Der journalistische Kommentar im engeren Sinne bezeichnet allerdings ein konkretes Genre, für das eigene Formalia und Regeln gelten – zum Beispiel die, dass die Redaktionsleitung dem Autor oder der Autorin nicht vorschreiben darf, welche Meinung er oder sie vertreten soll.
Dass sich ein Kommentar von einem Bericht in Form und Zweck unterscheidet, ist eigentlich Grundlagenwissen und eine wichtige Voraussetzung, um Berichterstattung zu verstehen, einordnen und kritisieren zu können. Eine Entscheidung der "Tagesthemen"-Redaktion der ARD legt nun allerdings nahe, dass dieses Basiswissen nicht mehr bei allen vorhanden ist.
"Tagesthemen" benennen den "Kommentar" um
Gestern kündigte das Sendungsteam an, die seit 42 Jahren etablierte Rubrik "Kommentar" in Zukunft unter der Überschrift "Meinung" zu führen. Mit der Änderung wolle man transparenter machen, dass es sich um die Meinung einer einzelnen Person handele, so die Erklärung auf Twitter.
"Wir haben gemerkt, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht so richtig etwas anfangen können mit dem journalistischen Genre Kommentar – alle haben geglaubt, das ist der Kommentar der gesamten 'Tagesthemen'-Redaktion, was er aber nicht ist", erklärte Marcus Bornheim, Chefredakteur von "ARD Aktuell", im Dlf. Außerdem habe es immer wieder den Vorwurf gegeben, der Kommentar sei nicht ausgeglichen oder ausgewogen genug - was er ja auch gar nicht sein solle. Bornheim kündigte an, neben der Umbenennung des Formats solle sich nun auch schrittweise die Zusammensetzung der Kommentierenden ändern.
Dass der Rubriktitel geändert werden müsse, sei traurig, schrieb eine Userin auf Twitter: "Die Definition und Analyse der Textform ‚Kommentar‘ ist Schulstoff und sollte jedem geläufig sein. Was sagt das über den Zustand der Allgemeinbildung und Schulbildung in unserem Land aus?" Ähnlich äußerten sich auch weitere Twitter-Nutzer.
Bildungsauftrag der Landesmedienanstalten
Beatrice Dernbach, Professorin für Praktischen Journalismus an der Technischen Hochschule Nürnberg, sagte im Dlf, Rezipienten müssten auf einer Meta-Ebene wissen, wie Medien strukturiert und sortiert seien. Sie müssten auch den Unterschied zwischen tatsachenbetonten und meinungsorientierten Formen kennen.
Journalisten hätten die Verantwortung und die Verpflichtung, transparent zu machen, wie ein Medium funktioniere und wie eine Redaktion Entscheidungen treffe, betonte die Professorin. Es müsste aber auch Medienbildung geben – das stünde klar im Auftrag der Landesmedienanstalten und sei auch Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten.
Formen verwischen in Social Media
"Das ist natürlich schwierig im digitalen Zeitalter, wo nicht nur Redaktionen journalistische Angebote produzieren, sondern jeder letztlich", sagte Dernbach. In den Sozialen Netzwerken werde kein Unterschied zwischen Sachinformationen und Meinungsäußerungen gemacht. "Das übertragen viele dann auch auf die klassischen Medien und finden sich da nicht mehr zurecht."
Gleichzeitig verschwömmen die Darstellungsformen im Journalismus zunehmend, sagte die Professorin. Sie beobachtet im Printjournalismus, dass Nachrichten und Berichte im letzten Satz noch einen "Meinungsschlenker" bekämen.
In der gestrigen Ausgabe der "Tagesschau", war Ähnliches zu beobachten, und zwar in einem Beitrag von Hanni Hüsch über die Protestierenden, die am Wochenende mit Reichsfahnen die Reichstagtreppe erklommen hatten. Am Ende war die Journalistin selbst im Bild zu sehen. Die Bilder vom Wochenende dürften sich nicht wiederholen, forderte sie: "Aber vielen ist auch klar: Die Transparenz, die Nähe zu den Entscheidern, die Chance, den Politikern buchstäblich auch auf die Finger zu schauen: Das alles ist elementar für die Demokratie."
Dass man den Korrespondenten oder die Korrespondentin im Bild sehe, habe ihrer Wahrnehmung nach in den letzten Jahren zugenommen, sagte Dernbach: "Das provoziert möglicherweise auch dazu, dass die Journalisten meinen, sie müssten das jetzt irgendwie noch abschließen durch eine persönliche Einschätzung." Ihren Studierenden würde sie davon regelmäßig abraten.