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Meinungsforscher zum Brexit-Referendum
"Die Wettbüros sind auch nicht schlauer als wir"

Was macht einen typischen Brexit-Wähler aus? Was unterscheidet die Voraussagen eines Meinungsforschungsinstituts und die Wetten der Buchmacher? Stephan Shakespeare vom Meinungsforschungsinstitut yougov rechnet jedenfalls mit einem knappen Ergebnis. Viele Menschen seien deshalb hoch nervös, sagte Shakespeare im DLF.

Stephan Shakespeare im Gespräch mit Thielko Grieß | 23.06.2016
    Eine Frau liest am 23.06.2016 in London in der U-Bahn vor dem Referendum über den Austritt oder Verbleib Großbritanniens in der EU im kostenlosen Infoblatt "Metro", das mit der Überschrift "Britain Decides" titelt. Rund 46 Millionen Wähler bestimmen am 23.06.2016, ob ihr Land in der EU bleiben soll.
    Die Stimmung hat sich innerhalb der letzten Wochen verschoben, konstatiert Stephan Shakespeare. (dpa)
    In den vom Meinungsforschungsinstitut yougov durchgeführten Online-Umfragen handele es sich um tagesgenaue Stimmungsbilder. Gerade in den letzten Wochen sei es in der öffentlichen Diskussion verstärkt um die Nachteile eines Brexit gegangen. Aus Angst vor einem möglichen Wandel habe sich deshalb - wie prognostiziert - die Stimmung innerhalb der letzten Zeit verschoben. Die Angst vor Veränderungen habe die Oberhand gewonnen, sagte Shakespeare.
    Britinnen und Briten in der Großstadt seien eher für eine Verbleib in der EU. Auch in Wales und Schottland herrsche eine positivere Einschätzung der EU vor. Menschen aus der Arbeiterschicht mit geringerem Einkommen seien eher für einen Brexit, so Shakespeare. Internationalismus habe für sie keinerlei Attraktivität.
    Das Interview im englischen Original

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Das Referendum ist ein Fest für Umfrageinstitute. Solange es kein Ergebnis gibt, gibt es nicht sehr viel mehr als Umfrageergebnisse, die in den vergangenen Tagen jeden Tag geliefert worden sind. Einer der Gründer und der heutige Chef eines großen Umfrageinstituts, nämlich des Instituts "Yougov" in London, heißt Stephan Shakespeare. Wir haben ihn vor der Sendung gefragt, weshalb es eigentlich nach dem Ende, nach dem Schließen der Wahllokale, anders als bei Parlamentswahlen und als wir es hier aus Deutschland auch gewohnt sind, keine exit polls, keine Prognosen gibt.
    Stephan Shakespeare: Nun, eine derartige Abstimmung ist sehr schwer vorherzusagen, denn es hängt ja so viel von dieser Entscheidung ab. Die Märkte werden davon stark beeinflusst, die Zukunft des Landes selbstverständlich, viele Menschen sind hoch nervös, und diese Wahlausgangsbefragungen können ja nur ein Stimmungsbild, wenige Stunden, ehe die tatsächlichen Ergebnisse eintreffen, geben. Viele werden sich also denken, warum sollten wir uns darüber überhaupt Gedanken machen, es ist nicht so wichtig.
    "Es wird ein zu knappes Rennen sein"
    Grieß: Aber worin besteht der Unterschied genau zu normalen, zu regulären Parlamentswahlen, wo es ja Prognosen auch nach Schließung der Wahllokale gibt?
    Shakespeare: Nun, im fachlichen Sinne gibt es da keinen eigentlichen Unterschied. Es ist aber eine derartige Wegscheide in dieser Abstimmung, dass niemand sich dieser Mühe wird unterziehen wollen. Allerdings führen wir tatsächlich Tag um Tag eine Online-Befragung durch. Das ist kein Wahlausgangs-Exit-Poll, sondern wir machen das für Sky. Wir messen jeden Tag, was die Leute denken, und wir werden auch kurz nach zehn Uhr dann unsere Einschätzung des möglichen Wahlergebnisses bekannt geben. Aber nach jetzigem Stand kann ich sagen, es wird eigentlich ein zu knappes Rennen sein, als dass man da eine bestimmte Aussage treffen könnte.
    Grieß: Sie meinen, zehn Uhr britischer Zeit heute Abend, also 23 Uhr deutscher Zeit?
    Shakespeare: Ja! Es ist keine Wahlausgangs-Befragung, dass wir etwa die Menschen nach dem Besuch der Wahlkabine befragen, aber es ist tatsächlich eine tagesgenaue Stimmungslage.
    "Wir bilden das Stimmungsbild tagesgenau ab"
    Grieß: Wir lesen und hören ja viel von den Vorhersagen von Buchmachern, die Wetten anbieten auf den Ausgang dieses Referendums, und die sagen einen Vorsprung für Remain voraus. Nehmen Sie die Buchmacher ernst?
    Shakespeare: Wir trauen ihnen nur insofern über den Weg, als wir dieses Stimmungsbild der Wettbüros als Vorhersage für den Wahlausgang ernst nehmen. Doch machen die Wettbüros etwas grundsätzlich anderes als die Meinungsforschungsinstitute. Sie wetten nämlich auf den tatsächlichen Ausgang einer Wahl, während wir dagegen immer nur das jeweilige Stimmungsbild tagesgenau abbilden. So hatten wir zum Beispiel vor zwei Wochen einen fünf Prozent Vorsprung für die Brexit-Befürworter, während andere wiederum fünf Prozent mehr für die Brexit-Gegner hatten. In jedem Fall gaben wir nur das wieder, was zum jeweiligen Zeitpunkt erhoben wurde. Die Wettbüros dagegen erheben den Anspruch, das was in zwei Wochen etwa geschieht vorherzusagen, und insofern haben wir vollständig unterschiedliche Aufgaben.
    Eines ist aber sicher: Wir wissen, dass die Wettbüros auch nicht schlauer sind als wir. Ganz im Gegenteil! Wir hatten beispielsweise bei den letzten landesweiten Wahlen ein sehr viel stärkeres Befürworten bei den Wettbüros für einen Sieg von Labour, als wir Meinungsforschungsinstitute das vorhersagten. Insofern waren wir damals näher dran als die Wettbüros.
    "Wettbüros und Meinungsforscher haben unterschiedliche Aufgaben"
    Grieß: Damit lagen ja die Buchmacher noch falscher als die Umfrageinstitute.
    Shakespeare: Richtig. Aber sie waren noch ein bisschen schlechter als wir. Aber ein weiteres Beispiel ist die Wahl von Jeremy Corbyn. Die Wettbüros haben ihn damals unter ferner liefen geführt, während wir ihn als Favoriten ermittelt hatten. Nachdem unsere Aussage bekannt geworden war, hatten die Wettbüros ihn hochgestuft, immer noch auf den zweitwahrscheinlichsten Gewinner, und erst danach, als wir erneut ihn als Sieger vorhersagten, haben sie das dann auch übernommen. Die Wettbüros führen alle vorhandenen Umfragen zusammen und versuchen, dann daraus ein Gesamtbild für den tatsächlichen Wahlausgang zu ermitteln.
    Grieß: Da Sie die Umfragen zur letzten Unterhauswahl ansprechen im vergangenen Jahr, wo Sie, wie Sie gerade sagten, entsetzlich daneben lagen, haben Sie inzwischen den Fehler gefunden?
    Shakespeare: Ganz sicher haben wir das entdeckt. Es waren sogar zwei Fehler. Der erste Fehler bestand darin, dass wir die älteren Menschen als eine einheitliche Gruppe auffassten, die 60- bis 70-jährigen zusammen mit den 70- bis 80jährigen oder den noch älteren. Wir behandelten sie, als wären sie eine homogene Gruppe, was aber nicht der Fall ist. Die Älteren sind deutlich konservativer als die jüngeren Alten und das haben wir mittlerweile voneinander getrennt.
    Aber der größere Fehler war, dass wir die Rolle der gleichgültigen oder politikfernen Menschen unter den jungen Menschen unterschätzten, also jener Menschen, die einfach nicht zur Wahl gehen. Wir haben den Einfluss der geringen Wahlbeteiligung unterschätzt und da die jungen Menschen grundsätzlich mehr zur Linken und zur Labour-Partei neigten, haben wir bei dieser Überschätzung eines erwarteten Zustroms zu den Urnen eine Vorteilsnahme für die Linke erzielt.
    Das hatte als einzelner Fehler zu etwa zwei Prozent Abweichung geführt. Ein Prozent erklärte sich durch den Irrtum in der Erfassung der älteren Menschen. Wir haben dadurch drei Prozent zu viel für Labour herausbekommen und drei Prozent zu wenig für die Konservativen. Das führte dann zu einem sechsprozentigen Fehler. Das war ein Fehler, den wir schon oft begangen hatten, auch in der Vergangenheit. In der Vergangenheit spielte das keine so große Rolle, diesmal sehr wohl. Wir haben dem Abhilfe geschaffen, sodass wir jetzt wesentlich zielgerichteter das Wählerverhalten vorhersagen können.
    "Brexit-Wähler gehören eher der Arbeiterschicht an"
    Grieß: Und das führt uns, Herr Shakespeare, direkt zum nächsten Thema. Ich frage jetzt Sie nach Durchschnittswählern. Wer ist ein typischer Brexit-Wähler?
    Shakespeare: Nun, diese Wähler sind eher im Südwesten oder in Mittelengland oder in Ostengland zu finden, im Nordosten des Landes auch. Sie gehören eher der Arbeiterschicht an. Sie sind wirtschaftlich schwächer. Sie sind teilweise auch außen vor geblieben. Sie haben Nachteile erlitten durch die wirtschaftlichen Änderungen, die wir in den letzten zehn oder 20 Jahren erlebt haben. Dinge wie Globalisierung oder Internationalismus haben für sie keinerlei Attraktivität. Im Gegenteil: Sie erwarten da eher einen Rückgang der Arbeitsplätze oder auch einen Druck auf die Gehälter nach unten. Sie fühlen sich außen vor gelassen durch diese Wandlungsvorgänge. Sie machen sich Sorgen wegen der Einwanderung und neigen deshalb eher dazu, für ein Verlassen der EU zu stimmen und auch die Kontrolle über die eigenen Grenzen wiedergewinnen zu können.
    Grieß: Und die Gegenseite? Das verstehe ich jetzt so: Das sind die Leute mit internationaler Erfahrung, oder wie sehen da Ihre Befunde aus?
    Shakespeare: Richtig. Es sind vor allem Menschen in großstädtischen Bereichen. Ein sehr großer Teil von London, nicht ganz London ist auch für den Verbleib in der EU. Darüber hinaus Wales und Schottland, die ja ganz erhebliche Selbstbestimmungsrechte bekommen haben, die nur innerhalb der EU denkbar sind. Diese Menschen haben eine positivere Einschätzung der EU. Es sind auch eher höher gebildete Menschen, Menschen mit höherem Einkommen, die vom Binnenmarkt oder von dieser einheitlichen Wirtschaftszone profitieren werden. Sie können reisen, sie können Arbeitsplätze überall antreten, sie neigen eher dazu, den Verbleib in der EU zu befürworten.
    "Cox' Mord hat nicht zum Brexit-Trend geführt"
    Grieß: Wir haben hier in Deutschland natürlich davon gehört, auch viel berichtet über den Mord an der Abgeordneten Jo Cox, die sich enthusiastisch für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union ausgesprochen hatte. Hat dies die Zahlen beeinflusst?
    Shakespeare: Viele meinten das ja, dass diese Tragödie tatsächlich den Anstoß gegeben habe. Wir bei "Yougov" dagegen hatten Tag um Tag Stimmungsbilder erhoben. Wir haben ja auch neben den Medien viele akademische Auftraggeber. Und wir stellten fest, dass dieser Trend zugunsten des EU-Verbleibes einige Tage vor diesem Zwischenfall eingesetzt hatte und sich danach fortsetzte. Vielleicht wurde durch diese Tragödie der Trend noch verstärkt oder beibehalten, aber ganz sicherlich hat diese Tragödie nicht zur Aussetzung des Trends geführt.
    Grieß: Das ist interessant, was Sie da sagen, Herr Shakespeare. Was war für diese Entwicklung, für diesen Trend Mitte Juni ursächlich?
    Shakespeare: Wir haben es schon seit Langem gesagt, dass wir, je näher der Tag der Entscheidung heranrückt, davon ausgehen, dass die Stimmung sich ändern wird, dass die Menschen mehr und mehr Angst bekommen vor den Folgen eines Wandels. Zu Beginn dieser Kampagne für den Brexit schlossen sich ja viele dem an. Sie hofften, in einem kühnen Schwung dann wieder Unabhängigkeit zu gewinnen, und gerieten in Verzückung. Selbst bei den Befürwortern des EU-Verbleibes ist ja die EU nicht sehr beliebt. Das darf man nicht vergessen.
    Kurzum: Die Begeisterung gegen die EU stieg an. Jetzt in den letzten Wochen wurden immer deutlicher auch die Nachteile eines Brexits rausgestrichen. Man bekam Angst vor Arbeitsplatzverlust, vor dem Verfall von Immobilienpreisen. Man fürchtet jetzt das Ansteigen der Inflation. Die Menschen werden nervöser. Wir haben das immer so vorhergesagt, dass je näher der Tag der Abstimmung heranrückt, desto stärker der Zuspruch zum Brexit schwinden wird, und dass dann die Angst vor dem Wandel die Oberhand gewinnt und deshalb immer mehr Menschen für die Beibehaltung des Status quo, also den Verbleib in der EU sind.
    Grieß: … sagt Stephan Shakespeare, der Mitgründer und Chef des britischen Umfrageinstituts "Yougov".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.