Als Hörfunk-Reporter wäre Gay Talese wahrscheinlich nicht erfolgreich. Mikrophone sind ihm ein Graus. Er mag sie nicht, weil sie verstörend und einschüchternd wirken können. Deswegen notiert der New Yorker Journalist seine Beobachtungen und Ideen am liebsten auf klein geschnittenen Pappen aus seiner Wäscherei.
Die Reportagen, die der heute 74-jährige Gay Talese im Lauf der vergangenen 50 Jahre unter anderem in der "New York Times" und in dem Magazin "Esquire" veröffentlichte, bescherten ihm, was Vertretern seiner Zunft nur selten zuteil wird: Weltruhm. Dankenswerterweise hat jetzt der Verlag Rogner & Bernhard Kostproben seiner Meisterschaft auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht.
Hinter dem Titel des Buchs verbirgt sich eine Referenz an einen der spektakulärsten Artikel von Gay Talese: "Frank Sinatra ist erkältet". Das 1966 erschienene Sänger-Porträt wurde zum Klassiker des literarischen Journalismus; "Esquire" kürte dieses Bravourstück jüngst sogar "zur besten Geschichte aller Zeiten".
Legendär ist nicht allein die Reportage, auch ihre Entstehungsgeschichte ist beeindruckend. Gay Talese war nach Las Vegas gereist, um mit Frank Sinatra persönlich zu sprechen. Vor Ort erfuhr er, dass der Star das Interview wegen eines Schnupfens abgesagt hatte. Frauen wissen es längst: Männer leiden auch an Wehwehchen immens. Selten hat ein Autor diese universelle Besonderheit der männlichen Psyche so unterhaltsam beschrieben wie Talese:
"Sinatra mit Schnupfen ist wie Picasso ohne Farbe, Ferrari ohne Sprit – nur schlimmer. Weil ihn eine Erkältung seines unbezahlbaren Juwels, seiner Stimme beraubt; sie bohrt sich nicht nur tief in sein Selbstbewusstsein und verändert seine Psyche, sondern ruft, obendrein noch eine Art psychosomatischen Schnupfen bei dutzenden von Menschen hervor, die für ihn arbeiten, mit ihm trinken, in verehren, auf Gedeih und Verderb von ihm abhängig sind. Ein Sinatra mit Erkältung kann die Unterhaltungsindustrie in ihren Grundfesten erschüttern, so gewiss, wie ein plötzlich erkrankter amerikanischer Präsident die Volkswirtschaft ins Wanken zu bringen vermag."
Den geplatzten Termin quittierte Gay Talese mit Hartnäckigkeit. Über mehrere Tage hinweg folgte er dem Sänger auf Schritt und Tritt und nahm dabei den berüchtigten Sinatraschen Hofstaat unter die Lupe. Das erhoffte Interview kam nicht zustande. Dennoch hatte Talese die Größe, dem unnahbaren Star ein literarisches Denkmal zu setzen. Sinatra hatte sich letztendlich selbst zuzuschreiben, dass in diesem Porträt neben Unterweltbossen, dubiose Blondinen, und Zechkumpeln auch seine diversen guten Geister prominent ins Rampenlicht traten, unter anderem auch die unscheinbare kleine Dame, die seine 60 Toupets in einem Köfferchen stets mit sich herumtrug.
Die Reportagen von Gay Talese lesen sich so spannend wie erfundene Geschichten. Wie viel Recherchefleiß und Faktentreue in ihnen steckt, ist erst auf den zweiten Blick erkennbar. Für seine Recherchen nimmt er sich viel Zeit. "The fine Art of Hanging around” nennt er seine Arbeitsweise und meint damit etwas, das im Zeitalter des hastigen Infotainment fast verloren gegangen ist: In die Stoffe eintauchen, abwarten, beobachten, beschreiben - mehr nicht.
Wie sehr er dem gesprochenen Wort misstraut, spricht Gay Talese jungen Kollegen immer wieder gern auf die Diktiergeräte. "Spiegel"-Reporter Alexander Osang, der das schöne Vorwort zu diesem Buch verfasst hat, kann das bestätigen. Gay Talese erteilte dem deutschen Kollegen eine unvergessliche Lektion im Warten und erzählte ihm gleichzeitig von einem Stoff, der ihn seit Jahren auf Trab gehalten hat. Fünf Monate lebte Talese in China, um Material zu sammeln über die chinesische Fußballspielerin, die 1999 im WM-Finale gegen die USA den entscheidenden Elfmeter verschossen hatte. Ob sich der Zeitaufwand gelohnt hat, bleibt offen, denn Talese hat diese Geschichte bis heute nicht abgeschlossen.
Gay Talese, der aus einer sizilianischen Einwandererfamilie stammt, ist ein Meister des Beobachtens. Oft konzentriert er sich in seinen Reportagen auf vermeintlich Nebensächliches und enthüllt dabei beiläufig das Wesentliche. Sein Stil ist elegant und pointiert, ganz gleich, ob er über New York schreibt, über einsamen Sex, die Mafia oder über eine groteske Begegnung zwischen Muhammad Ali und Fidel Castro.
Wie detailversessen und stilbewusst Gay Talese ist, verrät er auch in seinem Äußeren: Er geht nie ohne dreiteiligen Anzug aus dem Haus. Hemd, Krawatte, Einstecktuch, Strümpfe und Schuhe sind selbstredend sublim aufeinander abgestimmt.
Sein Bericht über die New Yorker Vogue, ein Auftrag von "Esquire" im Jahr 1961, dürfte ein Hochgenuss für ihn gewesen sein. Gay Talese mokiert sich darin dezent über die eleganten, faltenfreien Redakteurinnen, die in der Lage sind, in Kursivschrift Konversation zu treiben und auf Französisch zu fluchen:
"Da sich ihr Redeschwall unweigerlich mit dem Palaver vermischt, das aus den anderen Räumen über den Flur hallt, fällt es dem lang gedienten Redakteur des Moderessorts, Baron den Gunzburg, oftmals nicht leicht, sich auf das Kreuzworträtsel der London Time zu konzentrieren, die er sich allmorgendlich durch einen Boten vom internationalen Presse-Stand am Times Square abholen lässt. Der Baron, den die Damen bei Vogue mit 'Nickiie' anreden und der die Sieben auf europäische Art mit einem Strich in der Mitte schreibt, war früher Tänzer einer russischen Ballettkompanie und kann sogar darauf verweisen, bereits einmal in einem Film mitgespielt zu haben – einer deutschen Produktion mit dem Titel Der Vampir."
Eine der bewegendsten Reportagen in diesem Buch, "Die Brücke", erschien erstmals in den 60er Jahren. Gay Talese schildert darin das Entstehen der Verrazano-Narrows Brücke, die Brooklyn mit Staten Island verbindet. Selbst Leser, die sich nicht im Geringsten für Technik interessieren, werden die Informationen über die Geschichte des Brückenbaus quasi beiläufig und mit großem Vergnügen lesen, denn Talese verwebt sie geschickt in spannende Lebensgeschichten.
Drei Jahre lang verbringt er jede freie Minute auf der Baustelle, so dass man ihn irgendwann schon für ein Mitglied des Bautrupps hält. Dabei perfektioniert er seine unkonventionelle Recherchemethode des "Hanging-Around". Er taucht vollkommen ein in das Milieu der so genannten Boomer, der Brückenbauer, die bei der Arbeit täglich ihr Leben riskieren und dennoch mit niemand auf der Welt tauschen würden.
"Sie fahren mit dicken Autos in die Stadt, schlafen in möblierten Zimmern. Sie bestellen Bier zum Whiskey und sie stellen Frauen nach, die sie bald wieder vergessen haben. Sie bleiben immer nur kurze Zeit an einem Ort, gerade so lange, bis sie die Brücke gebaut haben, dann geht es weiter in die nächste Stadt, zur nächsten Brücke, wo sie wieder alles Mögliche zusammenfügen – außer ihr eigenes Leben.
Die Schienbeine derjenigen, die die Stahlträger zusammenfügen, sind zerfurcht von tiefen Narben, die sie sich zugezogen haben, wenn sie an Pfeilern und Masten entlangrobben. Viele Boomer haben verstümmelte Hände oder Finger durch abgerutschte oder außer Kontrolle geratene Stahlträger verloren. Die meisten sind schon einmal abgestürzt und haben sich ein oder zwei Gliedmaßen gebrochen. Alle haben dem Tod schon mal ins Auge geblickt."
Die Welt der kleinen Leute spielt in allen Reportagen von Gay Talese eine wichtige Rolle. Er nimmt sich nicht nur die Zeit, an ihrem Leben teilzunehmen und ihnen zuzuhören, er besitzt auch die innere Freiheit und die Herzenswärme aus ihren Schicksalen zeitlos spannende Geschichten zu destillieren. Oft sind es Geschichten von Menschen, denen das Leben nie wirklich eine Chance geboten hat, die engen Grenzen ihrer kleinen Welt zu überwinden. Aber gerade von ihnen hat Gay Talese viel gelernt:
"Doch in jener Welt waren sie Helden – Helden, denen es nie an Mut oder Stolz mangelte, Männer die dem Ehrenkodex der Boomer treu geblieben waren: dorthin zu gehen, wo die nächste große Aufgabe wartet,..."
Die Reportagen, die der heute 74-jährige Gay Talese im Lauf der vergangenen 50 Jahre unter anderem in der "New York Times" und in dem Magazin "Esquire" veröffentlichte, bescherten ihm, was Vertretern seiner Zunft nur selten zuteil wird: Weltruhm. Dankenswerterweise hat jetzt der Verlag Rogner & Bernhard Kostproben seiner Meisterschaft auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht.
Hinter dem Titel des Buchs verbirgt sich eine Referenz an einen der spektakulärsten Artikel von Gay Talese: "Frank Sinatra ist erkältet". Das 1966 erschienene Sänger-Porträt wurde zum Klassiker des literarischen Journalismus; "Esquire" kürte dieses Bravourstück jüngst sogar "zur besten Geschichte aller Zeiten".
Legendär ist nicht allein die Reportage, auch ihre Entstehungsgeschichte ist beeindruckend. Gay Talese war nach Las Vegas gereist, um mit Frank Sinatra persönlich zu sprechen. Vor Ort erfuhr er, dass der Star das Interview wegen eines Schnupfens abgesagt hatte. Frauen wissen es längst: Männer leiden auch an Wehwehchen immens. Selten hat ein Autor diese universelle Besonderheit der männlichen Psyche so unterhaltsam beschrieben wie Talese:
"Sinatra mit Schnupfen ist wie Picasso ohne Farbe, Ferrari ohne Sprit – nur schlimmer. Weil ihn eine Erkältung seines unbezahlbaren Juwels, seiner Stimme beraubt; sie bohrt sich nicht nur tief in sein Selbstbewusstsein und verändert seine Psyche, sondern ruft, obendrein noch eine Art psychosomatischen Schnupfen bei dutzenden von Menschen hervor, die für ihn arbeiten, mit ihm trinken, in verehren, auf Gedeih und Verderb von ihm abhängig sind. Ein Sinatra mit Erkältung kann die Unterhaltungsindustrie in ihren Grundfesten erschüttern, so gewiss, wie ein plötzlich erkrankter amerikanischer Präsident die Volkswirtschaft ins Wanken zu bringen vermag."
Den geplatzten Termin quittierte Gay Talese mit Hartnäckigkeit. Über mehrere Tage hinweg folgte er dem Sänger auf Schritt und Tritt und nahm dabei den berüchtigten Sinatraschen Hofstaat unter die Lupe. Das erhoffte Interview kam nicht zustande. Dennoch hatte Talese die Größe, dem unnahbaren Star ein literarisches Denkmal zu setzen. Sinatra hatte sich letztendlich selbst zuzuschreiben, dass in diesem Porträt neben Unterweltbossen, dubiose Blondinen, und Zechkumpeln auch seine diversen guten Geister prominent ins Rampenlicht traten, unter anderem auch die unscheinbare kleine Dame, die seine 60 Toupets in einem Köfferchen stets mit sich herumtrug.
Die Reportagen von Gay Talese lesen sich so spannend wie erfundene Geschichten. Wie viel Recherchefleiß und Faktentreue in ihnen steckt, ist erst auf den zweiten Blick erkennbar. Für seine Recherchen nimmt er sich viel Zeit. "The fine Art of Hanging around” nennt er seine Arbeitsweise und meint damit etwas, das im Zeitalter des hastigen Infotainment fast verloren gegangen ist: In die Stoffe eintauchen, abwarten, beobachten, beschreiben - mehr nicht.
Wie sehr er dem gesprochenen Wort misstraut, spricht Gay Talese jungen Kollegen immer wieder gern auf die Diktiergeräte. "Spiegel"-Reporter Alexander Osang, der das schöne Vorwort zu diesem Buch verfasst hat, kann das bestätigen. Gay Talese erteilte dem deutschen Kollegen eine unvergessliche Lektion im Warten und erzählte ihm gleichzeitig von einem Stoff, der ihn seit Jahren auf Trab gehalten hat. Fünf Monate lebte Talese in China, um Material zu sammeln über die chinesische Fußballspielerin, die 1999 im WM-Finale gegen die USA den entscheidenden Elfmeter verschossen hatte. Ob sich der Zeitaufwand gelohnt hat, bleibt offen, denn Talese hat diese Geschichte bis heute nicht abgeschlossen.
Gay Talese, der aus einer sizilianischen Einwandererfamilie stammt, ist ein Meister des Beobachtens. Oft konzentriert er sich in seinen Reportagen auf vermeintlich Nebensächliches und enthüllt dabei beiläufig das Wesentliche. Sein Stil ist elegant und pointiert, ganz gleich, ob er über New York schreibt, über einsamen Sex, die Mafia oder über eine groteske Begegnung zwischen Muhammad Ali und Fidel Castro.
Wie detailversessen und stilbewusst Gay Talese ist, verrät er auch in seinem Äußeren: Er geht nie ohne dreiteiligen Anzug aus dem Haus. Hemd, Krawatte, Einstecktuch, Strümpfe und Schuhe sind selbstredend sublim aufeinander abgestimmt.
Sein Bericht über die New Yorker Vogue, ein Auftrag von "Esquire" im Jahr 1961, dürfte ein Hochgenuss für ihn gewesen sein. Gay Talese mokiert sich darin dezent über die eleganten, faltenfreien Redakteurinnen, die in der Lage sind, in Kursivschrift Konversation zu treiben und auf Französisch zu fluchen:
"Da sich ihr Redeschwall unweigerlich mit dem Palaver vermischt, das aus den anderen Räumen über den Flur hallt, fällt es dem lang gedienten Redakteur des Moderessorts, Baron den Gunzburg, oftmals nicht leicht, sich auf das Kreuzworträtsel der London Time zu konzentrieren, die er sich allmorgendlich durch einen Boten vom internationalen Presse-Stand am Times Square abholen lässt. Der Baron, den die Damen bei Vogue mit 'Nickiie' anreden und der die Sieben auf europäische Art mit einem Strich in der Mitte schreibt, war früher Tänzer einer russischen Ballettkompanie und kann sogar darauf verweisen, bereits einmal in einem Film mitgespielt zu haben – einer deutschen Produktion mit dem Titel Der Vampir."
Eine der bewegendsten Reportagen in diesem Buch, "Die Brücke", erschien erstmals in den 60er Jahren. Gay Talese schildert darin das Entstehen der Verrazano-Narrows Brücke, die Brooklyn mit Staten Island verbindet. Selbst Leser, die sich nicht im Geringsten für Technik interessieren, werden die Informationen über die Geschichte des Brückenbaus quasi beiläufig und mit großem Vergnügen lesen, denn Talese verwebt sie geschickt in spannende Lebensgeschichten.
Drei Jahre lang verbringt er jede freie Minute auf der Baustelle, so dass man ihn irgendwann schon für ein Mitglied des Bautrupps hält. Dabei perfektioniert er seine unkonventionelle Recherchemethode des "Hanging-Around". Er taucht vollkommen ein in das Milieu der so genannten Boomer, der Brückenbauer, die bei der Arbeit täglich ihr Leben riskieren und dennoch mit niemand auf der Welt tauschen würden.
"Sie fahren mit dicken Autos in die Stadt, schlafen in möblierten Zimmern. Sie bestellen Bier zum Whiskey und sie stellen Frauen nach, die sie bald wieder vergessen haben. Sie bleiben immer nur kurze Zeit an einem Ort, gerade so lange, bis sie die Brücke gebaut haben, dann geht es weiter in die nächste Stadt, zur nächsten Brücke, wo sie wieder alles Mögliche zusammenfügen – außer ihr eigenes Leben.
Die Schienbeine derjenigen, die die Stahlträger zusammenfügen, sind zerfurcht von tiefen Narben, die sie sich zugezogen haben, wenn sie an Pfeilern und Masten entlangrobben. Viele Boomer haben verstümmelte Hände oder Finger durch abgerutschte oder außer Kontrolle geratene Stahlträger verloren. Die meisten sind schon einmal abgestürzt und haben sich ein oder zwei Gliedmaßen gebrochen. Alle haben dem Tod schon mal ins Auge geblickt."
Die Welt der kleinen Leute spielt in allen Reportagen von Gay Talese eine wichtige Rolle. Er nimmt sich nicht nur die Zeit, an ihrem Leben teilzunehmen und ihnen zuzuhören, er besitzt auch die innere Freiheit und die Herzenswärme aus ihren Schicksalen zeitlos spannende Geschichten zu destillieren. Oft sind es Geschichten von Menschen, denen das Leben nie wirklich eine Chance geboten hat, die engen Grenzen ihrer kleinen Welt zu überwinden. Aber gerade von ihnen hat Gay Talese viel gelernt:
"Doch in jener Welt waren sie Helden – Helden, denen es nie an Mut oder Stolz mangelte, Männer die dem Ehrenkodex der Boomer treu geblieben waren: dorthin zu gehen, wo die nächste große Aufgabe wartet,..."