Ein Klassenbild aus einer anderen Zeit. In Zweierreihen sitzen die 20 Schüler an einfachen Holzpulten – in Anzug und Krawatte, das Haar ordentlich gescheitelt und gekämmt. Schon bald werden die jungen Männer ihr Abitur an der Kaiser-Friedrich-Schule in Berlin-Charlottenburg ablegen – und doch wirken die Gesichter, die dort ernst und erwachsen in die Kamera schauen, schon sehr viel reifer. Als ob sich – so ließe sich aus heutiger Perspektive ersinnen – die tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts in den Gesichtern bereits abzeichnen.
Entstanden ist das Foto im Jahr 1912. Und wahrscheinlich wäre es in Vergessenheit geraten, wäre nicht einer der Schüler dieser Klasse ein gewisser Walter Benjamin gewesen, dessen philosophische und literaturkritische Schriften ihn später in aller Welt berühmt machten. Das Buch aber ist – wie manch einer vermuten mag – kein Buch über Walter Benjamin allein. Nein, dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Momme Brodersen geht es um mehr. Anhand des Klassenbildes und der darauf versammelten Personen will er die Geschichte dieses so turbulenten 20. Jahrhunderts spiegeln:
"In dieser Zeit…
…schreibt Brodersen in Hinblick auf die letzten Jahrzehnte des 19. und die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts,
"…erlebte das Land einen nie da gewesenen Bevölkerungsanstieg: Bei seiner Einigung 1871 zählte das Reich noch rund 40 Millionen Einwohner, am Ende des Jahrhunderts waren es bereits annähernd 57. Ebenso rasant war der wirtschaftliche Aufschwung, und zwar nicht nur der traditionellen Kohle- und Stahlindustrie, sondern vor allem auch der der noch jungen und elektrotechnischen Industrie. Im Zuge dieser Entwicklung veränderte sich das gesamte gesellschaftliche Leben von Grund auf. Deutschland wurde in jenen Jahren zu einem Labor der Moderne, in dem die alten Eliten, Adel und Militär, politisch zwar bestimmend blieben, in dem aber auch ein neues Wirtschafts- und Bildungsbürgertum seinen Aufstieg erlebte."
Eben jenes aufstrebende Bürgertum wurde 1912 auf dem Klassenfoto verewigt. Es waren die Sprösslinge dieser neuen Epoche, die auf den Schulbänken saßen, darunter viele Söhne aus jüdischen Familien. Das Foto als Momentaufnahme: Es zeigt einen Augenblick der deutschen Geschichte, in dem das Gemeinsame das Trennende zu überwiegen schien, in dem die Attribute deutsch und jüdisch zusehends verschmolzen, zumindest keine Gegensätze darstellten. Ein Aufruf zu Beginn des Ersten Weltkrieges, den Brodersen in seinem Buch anführt, belegt dies:
"Deutsche Juden! In dieser Stunde gilt es für uns aufs Neue zu zeigen, dass wir stammesstolzen Juden zu den besten Söhnen des Vaterlandes gehören. Der Adel unserer viertausendjährigen Geschichte verpflichtet. Wir erwarten, dass unsere Jugend freudigen Herzens freiwillig zu den Fahnen eilt. Deutsche Juden! Wir rufen Euch auf, im Sinne des alten jüdischen Pflichtgebots mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen Euch dem Dienste des Vaterlandes hinzugeben."
Doch schon in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg begann die Einheit zu bröckeln. In der Abiturklasse des Jahres 1912 spiegelten sich die Risse, die auch die deutsche Gesellschaft teilen. Zwar ergriffen die meisten von Benjamins Klassenkameraden bürgerliche Berufe, wurden Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Publizisten, Wissenschaftler. Und doch drifteten die Kameraden, die einst die Schulbank teilten, in gegensätzliche, ja feindliche Lager auseinander: Walter Benjamin und andere Mitschüler jüdischer Herkunft sollten an den Folgen des nazistischen Terrors zugrunde gehen, andere stützten das Regime der Täter – wurden Parteimitglieder, Teil der SA, manch einer verdiente gar sein Geld am Massenmord in den Konzentrationslagern. Das deutsch-jüdische Miteinander von 1912 war zerbrochen, wie Brodersen unter anderem anhand von Briefen von Benjamins ehemaligem Mitschüler Alfred Cohn belegt:
"In diesen tollen Zeiten haben wir ja alle keinen Anspruch mehr auf die Erfüllung sehr normaler Wünsche und das Erreichen selbstverständlicher Ziele. Du kannst Dir gar kaum vorstellen, wie zernagt man ist, von Furcht, Hoffnung (denn auch diese zermürbt, wenn man sie immer wieder von neuem und trotz allem aufpflanzen muss) und all dem Schrecklichen, was täglich geschieht."
"Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten", schrieb einst Walter Benjamin. Momme Brodersen wird dieses Bonmot aufmerksam registriert haben, denn im Grunde stellt er sich genau dieser Herausforderung. Mit diesem Buch entreißt Brodersen nicht nur die ehemaligen Abiturienten der Berliner Kaiser-Friedrich-Schule dem Vergessen. Er spiegelt das Große im Kleinen, zeichnet quasi en miniature nach, welch enorme Zäsuren die deutsche Gesellschaft im vergangenen Jahrhundert durchlaufen hat. So gesehen ist dieser Band auch eine Geschichte des Verlustes. Denn viele Schüler jüdischer Herkunft, die den Naziterror überlebten, kehrten Deutschland nach 1945 endgültig den Rücken:
"Nicht nur Außenstehende hatten den Eindruck, es habe sich im Lande mental viel zu wenig geändert. Schon in den 1950er-Jahren hatten es zahllose ehemalige Nazis wieder zu Ansehen und Einfluss gebracht, in der Geschäftswelt wie in der Politik, im Staatsapparat wie in der Kultur. Darüber hinaus dürfte allein schon die Vorstellung, Nachbar eines ehemaligen Nazi-Bonzen, eines Schreibtischtäters zu werden, im freundlich den Hut ziehenden Bekannten auf der Straße einen einstigen SA-Schläger zurückzugrüßen oder sich im Konzert mit einem Mann zu unterhalten, der nur die Kleider gewechselt und die schwarze SS-Uniform durch einen dunklen Frack ersetzt hatte, die überlebenden jüdischen Schüler der Abiturientenklasse von 1912 davon abgehalten haben, ernsthafte Gedanken an eine Rückkehr zu verschwenden."
Dieses Buch ist – nicht zuletzt ob seines Rechercheaufwands – eine Meisterleistung. Eine Meisterleistung, zu der man dem Autor nur gratulieren und über die man sich als Leser glücklich schätzen kann.
Momme Brodersen: Klassenbild mit Walter Benjamin: Eine Spurensuche
Siedler Verlag 2012, 240 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-886-80943-1
Entstanden ist das Foto im Jahr 1912. Und wahrscheinlich wäre es in Vergessenheit geraten, wäre nicht einer der Schüler dieser Klasse ein gewisser Walter Benjamin gewesen, dessen philosophische und literaturkritische Schriften ihn später in aller Welt berühmt machten. Das Buch aber ist – wie manch einer vermuten mag – kein Buch über Walter Benjamin allein. Nein, dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Momme Brodersen geht es um mehr. Anhand des Klassenbildes und der darauf versammelten Personen will er die Geschichte dieses so turbulenten 20. Jahrhunderts spiegeln:
"In dieser Zeit…
…schreibt Brodersen in Hinblick auf die letzten Jahrzehnte des 19. und die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts,
"…erlebte das Land einen nie da gewesenen Bevölkerungsanstieg: Bei seiner Einigung 1871 zählte das Reich noch rund 40 Millionen Einwohner, am Ende des Jahrhunderts waren es bereits annähernd 57. Ebenso rasant war der wirtschaftliche Aufschwung, und zwar nicht nur der traditionellen Kohle- und Stahlindustrie, sondern vor allem auch der der noch jungen und elektrotechnischen Industrie. Im Zuge dieser Entwicklung veränderte sich das gesamte gesellschaftliche Leben von Grund auf. Deutschland wurde in jenen Jahren zu einem Labor der Moderne, in dem die alten Eliten, Adel und Militär, politisch zwar bestimmend blieben, in dem aber auch ein neues Wirtschafts- und Bildungsbürgertum seinen Aufstieg erlebte."
Eben jenes aufstrebende Bürgertum wurde 1912 auf dem Klassenfoto verewigt. Es waren die Sprösslinge dieser neuen Epoche, die auf den Schulbänken saßen, darunter viele Söhne aus jüdischen Familien. Das Foto als Momentaufnahme: Es zeigt einen Augenblick der deutschen Geschichte, in dem das Gemeinsame das Trennende zu überwiegen schien, in dem die Attribute deutsch und jüdisch zusehends verschmolzen, zumindest keine Gegensätze darstellten. Ein Aufruf zu Beginn des Ersten Weltkrieges, den Brodersen in seinem Buch anführt, belegt dies:
"Deutsche Juden! In dieser Stunde gilt es für uns aufs Neue zu zeigen, dass wir stammesstolzen Juden zu den besten Söhnen des Vaterlandes gehören. Der Adel unserer viertausendjährigen Geschichte verpflichtet. Wir erwarten, dass unsere Jugend freudigen Herzens freiwillig zu den Fahnen eilt. Deutsche Juden! Wir rufen Euch auf, im Sinne des alten jüdischen Pflichtgebots mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzem Vermögen Euch dem Dienste des Vaterlandes hinzugeben."
Doch schon in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg begann die Einheit zu bröckeln. In der Abiturklasse des Jahres 1912 spiegelten sich die Risse, die auch die deutsche Gesellschaft teilen. Zwar ergriffen die meisten von Benjamins Klassenkameraden bürgerliche Berufe, wurden Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Publizisten, Wissenschaftler. Und doch drifteten die Kameraden, die einst die Schulbank teilten, in gegensätzliche, ja feindliche Lager auseinander: Walter Benjamin und andere Mitschüler jüdischer Herkunft sollten an den Folgen des nazistischen Terrors zugrunde gehen, andere stützten das Regime der Täter – wurden Parteimitglieder, Teil der SA, manch einer verdiente gar sein Geld am Massenmord in den Konzentrationslagern. Das deutsch-jüdische Miteinander von 1912 war zerbrochen, wie Brodersen unter anderem anhand von Briefen von Benjamins ehemaligem Mitschüler Alfred Cohn belegt:
"In diesen tollen Zeiten haben wir ja alle keinen Anspruch mehr auf die Erfüllung sehr normaler Wünsche und das Erreichen selbstverständlicher Ziele. Du kannst Dir gar kaum vorstellen, wie zernagt man ist, von Furcht, Hoffnung (denn auch diese zermürbt, wenn man sie immer wieder von neuem und trotz allem aufpflanzen muss) und all dem Schrecklichen, was täglich geschieht."
"Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten", schrieb einst Walter Benjamin. Momme Brodersen wird dieses Bonmot aufmerksam registriert haben, denn im Grunde stellt er sich genau dieser Herausforderung. Mit diesem Buch entreißt Brodersen nicht nur die ehemaligen Abiturienten der Berliner Kaiser-Friedrich-Schule dem Vergessen. Er spiegelt das Große im Kleinen, zeichnet quasi en miniature nach, welch enorme Zäsuren die deutsche Gesellschaft im vergangenen Jahrhundert durchlaufen hat. So gesehen ist dieser Band auch eine Geschichte des Verlustes. Denn viele Schüler jüdischer Herkunft, die den Naziterror überlebten, kehrten Deutschland nach 1945 endgültig den Rücken:
"Nicht nur Außenstehende hatten den Eindruck, es habe sich im Lande mental viel zu wenig geändert. Schon in den 1950er-Jahren hatten es zahllose ehemalige Nazis wieder zu Ansehen und Einfluss gebracht, in der Geschäftswelt wie in der Politik, im Staatsapparat wie in der Kultur. Darüber hinaus dürfte allein schon die Vorstellung, Nachbar eines ehemaligen Nazi-Bonzen, eines Schreibtischtäters zu werden, im freundlich den Hut ziehenden Bekannten auf der Straße einen einstigen SA-Schläger zurückzugrüßen oder sich im Konzert mit einem Mann zu unterhalten, der nur die Kleider gewechselt und die schwarze SS-Uniform durch einen dunklen Frack ersetzt hatte, die überlebenden jüdischen Schüler der Abiturientenklasse von 1912 davon abgehalten haben, ernsthafte Gedanken an eine Rückkehr zu verschwenden."
Dieses Buch ist – nicht zuletzt ob seines Rechercheaufwands – eine Meisterleistung. Eine Meisterleistung, zu der man dem Autor nur gratulieren und über die man sich als Leser glücklich schätzen kann.
Momme Brodersen: Klassenbild mit Walter Benjamin: Eine Spurensuche
Siedler Verlag 2012, 240 Seiten, 19,99 Euro
ISBN: 978-3-886-80943-1