Sarah Zerback: Lehrer in Deutschland dürfen in der Schule nicht alles sagen, was sie denken. Sie sind zur Neutralität verpflichtet und sollen die Schüler mit ihrem Unterricht nicht in bestimmte, zum Beispiel politische Richtungen lenken. Das will die AfD jetzt nutzen und ruft dazu auf, alle Lehrer zu melden, die sich negativ über die Partei äußern. In Hamburg geht das schon auf einer Online-Plattform der Partei, und die will sich die AfD jetzt auch in vielen anderen Bundesländern zum Vorbild nehmen, wachsender Kritik zum Trotz.
Über dieses Thema können wir jetzt mit einem Lehrer sprechen, dem die AfD genau diese Vorwürfe gemacht hat, nämlich das Neutralitätsgebot zu verletzen: Uwe Böken. Er ist außerdem Schulleiter einer Gesamtschule in Geilenkirchen bei Aachen. Guten Morgen, Herr Böken!
Uwe Böken: Guten Morgen.
Zerback: Um welche Äußerungen ging es bei Ihnen nun genau?
Böken: Der Kontext war der, dass wir Anfang März eine der letzten Überlebenden des ehemaligen Auschwitzer Mädchenorchesters, Frau Bajarano aus Hamburg zu Gast hatten bei einer Veranstaltung, und über diese Veranstaltung hat die WDR-Lokalzeit berichtet und ich habe dann in einem Interview mit dem WDR gesagt, dass wir seit der letzten Bundestagswahl im Deutschen Bundestag wieder rechtsextreme Abgeordnete sitzen haben. Das hat dann ein Aachener AfD-Abgeordneter zum Anlass genommen, Dienstaufsichtsbeschwerde gegen mich einzulegen.
"Das kriegt man nicht weg aus dem Internet"
Zerback: Obwohl Sie da die AfD nicht namentlich erwähnt haben. Aber die Partei hat sich davon angesprochen gefühlt?
Böken: Ja, muss wohl. Sonst wäre das nicht passiert. Ich habe keine Partei explizit angesprochen. Das würde ich auch nicht tun. In dem Moment wäre mir völlig klar, dass ich gegen die mir auferlegte Neutralitätspflicht verstoßen würde. Das habe ich nicht getan. Das war das Zitat.
Zerback: Jetzt haben Sie die Reaktion des Aachener AfD-Bundestagsabgeordneten Uwe Kamann gerade ja schon angesprochen. Der hat wortwörtlich geschrieben: "Eine Lehrkraft ist verantwortlich für die Vermittlung von Bildung, jedoch nicht für die Indoktrination der Schüler." Doch das war ja nicht alles. Wieviel Gegenwind haben Sie denn auf diese Äußerung bekommen?
Böken: Zunächst einmal hat er ja nicht nur Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt, sondern er hat das auf den sozialen Netzwerken auch entsprechend als Tatsachenbehauptung gepostet. Er hat nicht gesagt, nach meiner Meinung verstößt der Herr Böken gegen, sondern er hat das als Tatsache behauptet und das, soweit mir bekannt ist, ist auch jetzt immer noch online.
Zerback: Das kriegt man nicht weg aus dem Internet.
Böken: Das habe ich versucht. Ich habe das durch das Bundesamt für Justiz prüfen lassen, in Anwendung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Es sind da auch Strafanzeigen erstattet worden meinerseits. Das Bundesamt für Justiz hat sich meiner Auffassung angeschlossen, aber letztlich ist es immer noch online. Das heißt, faktisch für mich sichtbar passiert da jetzt nichts.
"Ich habe eine Meinung und ich habe einen Erziehungsauftrag"
Zerback: Diese Dienstaufsichtsbeschwerde, auch dieser massive Gegenwind dann in den sozialen Medien, haben Sie sich dadurch eingeschüchtert gefühlt?
Böken: Nein. Ich habe natürlich den Gegenwind wahrgenommen. Ich habe auch nicht nur Gegenwind in den sozialen Medien bekommen, sondern da hat es auch genau anders lautende Einträge gegeben, so ähnlich wie es auch eben in dem Beitrag aus Hamburg berichtet wurde, dass da auch durchaus andere Einträge in andere Richtung gehen, um das Ganze ins Lächerliche zu ziehen, was die AfD da unternimmt. Auch das hat es bei mir gegeben. Man hat deutlich auch meine Position gestützt und ich habe im eigenen Kollegium und auch hier im eigenen Umfeld natürlich durchaus auch sehr positive Resonanz bekommen und man hat mir gesagt, bleiben Sie bei Ihrer Linie, denn ich bin Leiter einer Schule, die einen Namen trägt, Anita Lichtenstein. Das ist ein jüdisches Mädchen hier aus unserem Ort, was im Alter von neun Jahren damals ermordet worden ist in der NS-Zeit. Dieser Name ist für uns seit jeher Programm gewesen, nicht einfach nur ein Etikett überm Eingang. Deshalb werde ich auf dieser Position auch bleiben. Wie eben schon gesagt: Ich habe keine Partei namentlich genannt. Fragen Sie den Bundestagspräsidenten, warum es nicht zu einer Wahl von Glaser ins Bundestagspräsidium gekommen ist. Die Begründung war sehr ähnlich.
Zerback: Ziehen Sie denn genau da die Grenze zwischen Meinungsfreiheit, politischer Äußerungen und Neutralität? Oder wo verläuft die bei Ihnen?
Böken: Ich bin natürlich in meiner Rolle als Lehrer zur Neutralität verpflichtet. Aber Neutralität bedeutet nicht, dass ich meinen eigenen Verstand in dem Moment an die Garderobe hänge, wenn ich die Schule betrete. Ich habe eine Meinung und ich habe einen Erziehungsauftrag. Ich soll die Kinder und Jugendlichen zu mündigen Staatsbürgern erziehen. Das kann ich aber nur, wenn ich mich sowohl historisch mit Ereignissen auseinandersetze als auch aktuell politisch mit Ereignissen auseinandersetze. Wie will ich Mündigkeit denn bewirken, wenn ich nicht auch entsprechend Zitate in den Unterricht einfließen lasse. Ich selber mache keinen Geschichtsunterricht, ich mache auch keinen Politikunterricht. Ich bin eigentlich Mathematiker und Naturwissenschaftler. Aber nichts desto trotz: Ich gebe auch mein politisches Bewusstsein nicht an der Garderobe ab, wenn ich die Schule betrete. Ich will Kinder zu mündigen Staatsbürgern machen. Dazu bin ich verpflichtet. Ich habe einen Diensteid abgelegt. Den habe ich nicht auf eine politische Partei abgelegt, sondern den habe ich auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung abgelegt, und das ist mir sehr wichtig, das noch mal ganz deutlich zu betonen.
Zerback: Herr Böken, unabhängig jetzt von Ihrem Fall und wenn Sie da auch die Entscheidung weiterhin verteidigen und dazu stehen und sich da keiner Schuld bewusst sind. Das ist ja rübergekommen.
Böken: Ja.
Verstöße gegen die Neutralitätspflicht ernst nehmen
Zerback: Ist es nicht trotzdem richtig, wenn es Verstöße gegen die Neutralitätspflicht gibt in der Schule, die dann auch zu melden?
Böken: Ja, natürlich! Das passiert aber ja auch. Das haben Sie ja eben selber berichtet. Das heißt, die Schulleitungen der Schulen nicht nur in meinem Bundesland Nordrhein-Westfalen sind angehalten, solche Meldungen ernst zu nehmen, und das tun sie auch. Da kann ich auch für meine Kolleginnen und Kollegen sprechen in anderen Systemen. Und ich würde, wenn ich eine solche Meldung bekäme, die auch sehr ernst nehmen. Dann würde ich mit den Kollegen sprechen und wir würden das auf jeden Fall auch weiter untersuchen. Dafür braucht es keine Denunziationsplattformen. Das was da über das Netz passieren soll, ist reine Denunziation und das kennt man, wenn man ein wenig ins Geschichtsbuch, aber nicht nur ins Geschichtsbuch schaut, sondern auch in die Gegenwart schaut, eigentlich nur aus Systemen, die deutlich totalitären Charakters sind als unser System, und das kann ich nicht tolerieren.
Zerback: Das sehen ja viele so wie Sie. Nicht nur der Kultusminister, sondern auch der Lehrerverband hat jetzt scharf kritisiert, dass es Plattformen wie in Hamburg jetzt auch bald in vielen anderen Bundesländern geben soll. Wird es da orchestrierten Protest der Lehrkräfte geben und machen Sie dann mit?
Böken: Den gibt es schon und da werde ich, wenn ich dazu irgendwie die Gelegenheit habe, auch dabei sein. Wir selber greifen dieses Thema hier an meiner Schule wieder auf. Wir haben am 8. November, am Tag vor der Pogromnacht, hier eine Podiumsdiskussion, die genau dieses Thema hat, wie weit geht das Neutralitätsgebot, was darf ich und was darf ich nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.