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Melitta Breznik: "Mutter. Chronik eines Abschieds"
Berührendes Porträt einer Sterbenden

Melitta Breznik hat das Sterben ihrer 91-jährigen Mutter sechs Wochen lang begleitet. Aus den Protokollen dieser Zeit gestaltet die Autorin, die auch als Psychiaterin arbeitet, ein berührendes literarisches Dokument. Es ist persönlicher im Ton als ihr Debütroman "Nachtdienst".

Von Martin Krumbholz |
Melitta Breznik: "Mutter. Chronik eines Abschieds" Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Melitta Breznik beschreibt in ihrem neuen Roman den Abschied von ihrer Mutter (Foto: dpa / picture alliance / Uwe Zucchi / Cover: Luchterhand Verlag)
Vor 25 Jahren erzählte Melitta Breznik in ihrem literarischen Debüt vom Tod ihres Vaters. Sie war nicht zugegen, als der Vater in einem Pflegeheim starb, die Ärztin und Psychiaterin hatte "Nachtdienst" – so auch der Titel ihres Textes; der Untertitel hieß: "eine Erzählung". Nicht "Erzählung", nicht das literarische Genre mit seinen fixen Gesetzmäßigkeiten war gemeint, sondern der individuelle Vorgang des Erzählens, das eine Annäherung und eine Distanzierung zugleich war. Der Vater war eine komplizierte Person, Alkoholiker: Verständnis und Nähe waren nicht mühelos zu erarbeiten. In ihrem Buch "Mutter. Chronik eines Abschieds" erzählt die Autorin nun davon, wie sie ihre 91-jährige Mutter sechs Wochen lang in einer Kleinstadt in der Steiermark beim Sterben begleitet hat. "Komm wir gehen heim sterben", hatte die Mutter nach der Krebsdiagnose gesagt, und die Tochter nahm die Aufforderung ernst, im Wissen, dass es nicht so einfach sein würde, wie die Mutter meinte – für beide nicht, auch nicht für sie, die Tochter, fern ihrem Lebensmittelpunkt in Zürich:

"Telefonieren kann ich kaum noch, die Wohnung ist zu klein, Mutter kann mich überall hören. Jeder Kontakt nach außen erscheint mir künstlich, und es ist mir nicht möglich, am Telefon über Dinge zu sprechen, die mich und mein Leben jenseits dieser vier Wände betreffen. Dieses Leben ist aktuell zurückgestellt. Die Zukunft ist die Zeit nach Mutters Tod."
Zwei Hände liegen auf einer Tischkante tröstend aufeinander.
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Kartoffelsalat für die letzte Reise
Die Erzählerin ist weitgehend mit ihrer Mutter allein, trifft alle Entscheidungen selbst, in Personalunion als Tochter und Ärztin. Der ältere Bruder taucht zwar auf, aber er geht mit der Situation pragmatischer um, hat nicht diese emotionale Nähe zur Mutter, wie sie seine Schwester offenbart, die auch den Wunsch der Sterbenden respektiert, weder im Krankenhaus zu sterben noch eine fremde Pflegerin hinzuzuziehen. Die Mutter ist Deutsche, hat ihren Mann zu Kriegsende kennengelernt, ist erst spät, nach der Trennung vom Vater ihrer Kinder, in der fremden Kleinstadt heimisch geworden. Sie ist geistig auf der Höhe, zeigt Anflüge von Humor, ist es gewohnt, ihren Alltag zu regeln, Entscheidungen zu treffen und zu verteidigen:

"Für sich selbst wünscht Mutter zum Leichenschmaus einen Teller Kartoffelsalat. Wenn sie ihn gegessen hätte, so sagt sie, würde sie gestärkt die Reise antreten, die nach ihrer Vorstellung einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Zuerst noch ein paar Tage in der Nähe der Menschen und dann hinaus in die Weiten des Weltalls."
Dass das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ungemindert harmonisch wäre, kann man nicht behaupten. Als die Erzählerin mit siebzehn schwanger wurde, hat die Mutter sie – mehr oder weniger – zu einer Abtreibung gezwungen. Zumindest indirekt, so kann man es dem Text entnehmen. Die Erzählerin schwankte hin und her, sie wollte nicht abtreiben, wollte aber auch unbedingt studieren, dem einengenden heimischen Umfeld entkommen; das ist ihr gelungen, allerdings blieb sie kinderlos:

"Mutter sagte Jahre später, sie hätte mich davor bewahren wollen, mit "Kind und Kegel", wie sie mehrmals betonte, zu Hause bleiben zu müssen, in Abhängigkeit eines Mannes, auf den möglicherweise kein Verlass gewesen wäre."
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Die Eine ist Tochter, die Andere ist Ärztin
Von den medizinisch-praktischen Umständen berichtet Melitta Breznik präzise, in allen Details, was auch für den Leser nicht immer einfach ist, dabei aber voller Wärme und Empathie. Das unterscheidet diesen Text vom Debüt "Nachtdienst", in dem, man ist versucht zu sagen: eine klinische Nüchternheit vorherrschte; die Nähe oder sogar Liebe zum Vater drang erst nach und nach durch die Schichten der Erzählung, aus der Kraft der Erinnerung. Der aktuelle Text basiert auf Notizen, die die Autorin offenbar während der Sterbebegleitung gemacht hat, wenn die Mutter schlief. Die Empfindungen dabei sind vielfältig, sie reichen von voller Hingabe bis zu Anflügen von Überdruss und Erschöpfung:
"Mutter sagt, sie hadere mit dem Sterben, sie habe sich das Ganze einfacher vorgestellt. Man könne nicht sterben, nur weil man es wolle, das habe sie inzwischen verstanden."
Auch wenn die Erzählerin in dieser Hinsicht keine Illusionen gehabt haben dürfte, macht es die Sache für sie nicht unbedingt leichter. Die eigene Mutter ist eben keine Patientin wie jede andere, eine gewisse Scham, vielleicht sogar eine gewisse Berührungsangst muss dabei überwunden werden. Doch sie lernt hinzu, erarbeitet sich Vertrauen, und mit der Zeit wird alles selbstverständlicher:
"Mutter zu untersuchen hat mich früher mit Scheu erfüllt, doch als sie vor Jahren einmal schwach und angeschlagen mit Husten tagelang im Bett lag, der Hausarzt in den Ferien war und sie sich weigerte, einen fremden Doktor zu konsultieren, konnte ich durch das Abhören der Lunge die richtige Diagnose einer Pneumonie stellen, worauf Mutter nicht mehr so zurückhaltend war wie zu Beginn meiner Laufbahn. Sie trennte strikt zwischen Tochter und Ärztin, wobei sie der Berufsfrau viel zuzutrauen schien, was unser beider Umgang mit ihren später folgenden Erkrankungen erleichterte."
Mit der Mutter verschwindet die eigene Kindheit
Im Idealfall müsste man beide Texte, den frühen und den aktuellen, hintereinander lesen: als ein Doppelporträt der beiden so unterschiedlichen Portalfiguren im Leben der Autorin. Der Stil hat sich verändert: Die langen, weit ausschwingenden Sätze in "Nachtdienst" haben Platz gemacht für meist kürzere, lakonischere Sätze, vielleicht entsprechend einem bedächtigeren Lebensrhythmus. Die Erzählerin ist erst fünfzig, aber ihre eigenen Bedürfnisse, auch die Anforderungen ihres Berufs, rücken in den Hintergrund, ohne ganz zu verschwinden. Gelegentlich ist von Traurigkeit die Rede, auch von einer Trauer um die eigene Kindheit, die mit dem Tod der Mutter "unwiederbringlich verschwinden wird", wie es heißt:

"Meine Spaziergänge orientieren sich an den Wegen meiner Kindheit und Jugend, an deren Kreuzungen die alten Gespenster hocken und mich mit ihrem Lächeln oder ihren Fratzen begrüßen, als hätten wir uns unlängst erst gesehen und als wüssten sie genauestens Bescheid darüber, was mich umtreibt, als wollten sie sich einmischen, um noch ihren Platz in meinem Leben zu behaupten."
Das Aus-der-Welt-Gleiten der alten Frau, schreibt Melitta Breznik, sei manchmal eher ein Zerren, Winseln und Toben, das dann doch wieder in ein Schweben, Fliegen und Träumen umzuschlagen scheine. Diese gegensätzlichen Affekte hat die Autorin in ihrem Mutter-Buch wunderbar eingefangen.
Melitta Breznik: "Mutter. Chronik eines Abschieds."
Luchterhand Verlag, München, 160 S., 18 Euro.