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Melvin J. Lasky
Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945.

Von Otto Langels |
    "Aus dem Schutt ragte ein rostzerfressenes Schild", schrieb Melvin Lasky am 10. Februar 1945. Seine Eindrücke von einer Fahrt durch eine lothringische Kleinstadt hielt er in seinem Tagebuch fest.
    "An einer zertrümmerten Fassade immer noch lesbar die freundliche Einladung: Aperitifs. Die gesamte Innenstadt lag in Schutt und Asche. Die Nazis hatten auf ihrem Rückzug zum Rhein gezielt Geschäftshäuser und Wohnviertel vermint und zerbombt. Nur das nackte Gerippe der Struktur war geblieben. Block für Block ein schauerliches quadratisches Trümmerfeld."
    Als Militärhistoriker folgte der 25-jährige Oberleutnant Melvin Lasky den Truppen der 7. US-Armee bei ihrem Vormarsch durch Frankreich und Deutschland. Was er in den letzten Kriegsmonaten hinter der Front sah, notierte er akribisch in seinem Tagebuch, manches spontan aufgeschrieben, manches ausgefeilt und sorgfältig formuliert, als sei es für ein größeres Publikum gedacht. In eindrucksvollen Passagen beschreibt er die verwüsteten deutschen Städte. Und es ist spürbar, wie ihn das Ausmaß der Zerstörung überwältigt, etwa beim Anblick Darmstadts:
    "Unfassbar, wie Darmstadt zugerichtet ist. Wir fuhren mit dem Jeep durch Alleen, Straßen und Gassen, fanden aber kein einziges intaktes Haus. Alle Gebäude zerbombt, ganze Häuserblocks dem Erdboden gleichgemacht. Wir sind viele Kilometer gefahren und trauten unseren Augen nicht. Eine ganze Stadt war verschwunden."
    Laskys Interesse gilt vor allem beschädigten Kulturgütern wie Kirchen, Universitätsgebäuden oder auch Goethes Geburtshaus. Zugleich registriert er verwundert unversehrte Viertel wie die Heidelberger Altstadt, das Zentrum Göttingens oder die Hermann-Göring-Eisenerz-Werke in Salzgitter:
    "Als wir uns Braunschweig näherten, sahen wir in der Ferne eine gewaltige Industrieanlage mit rauchenden Schornsteinen. Vielleicht hatte ein erfindungsreicher Rauchvorhang oder Ähnliches die Fabrik vor den Fliegerbomben geschützt. Die Bauernhäuser ringsum aber waren Ruinen, kleine Gemeinden zertrümmert. Ich sah quälend deutlich, wie verlogen und korrupt dieser Krieg war. Und selbst als ein Ungläubiger stand ich demütig und beschämt vor den Ruinen dieses fremden Landes."
    Melvin Laskys Tagebuch ist ohne die Attitüde des Besatzers geschrieben. Und da ihn die Chronistenpflicht des Armeehistorikers zunehmend langweilt, sucht der historisch und literarisch gebildete Zeitgenosse das Gespräch mit unbekannten wie bedeutenden Personen. So entsteht ein vielstimmiges Bild der ersten Nachkriegsmonate. In Göttingen unterhält er sich mit Friedrich Meinecke, dem hoch angesehenen Historiker, in Heidelberg trifft er die Witwe des Soziologen Max Weber und den Philosophen Karl Jaspers und seine Gattin Gertrud.
    "Frau Jaspers war als Jüdin verfolgt, Professor Jaspers als Ehemann einer Jüdin gedemütigt und an den Rand der Verzweiflung getrieben worden. Er versteckte und tröstete sie. Sie hatten beide genug Gift bei sich getragen, um sich im Notfall das Leben zu nehmen. Und oft wäre es um Haaresbreite zu diesem letzten Schritt gekommen. Frau Jaspers hatte alles verloren, Hoffnung, Vertrauen, Liebe, die Universität, Heidelberg, die Heimat. Deutschland gab es für sie nicht mehr. Aber dies ist nicht Deutschland, sagte ihr Jaspers immer wieder. Ich bin Deutschland."
    In solchen Passagen klingt Laskys Respekt vor den Werken und Werten deutscher Kultur an, die das tausendjährige Reich nicht auszulöschen vermochte. An diese Tradition von Goethe, Schiller und Kant gelte es beim Aufbau einer demokratischen Gesellschaft anzuknüpfen, lautet Laskys implizit ausgesprochene Botschaft. Nur so ließen sich die Folgen der nationalsozialistischen Barbarei überwinden. Wohl weil sein Blick mehr auf die Zukunft Deutschlands als auf die Vergangenheit des Dritten Reiches gerichtet ist, fallen seine Bemerkungen zum Holocaust und den Konzentrationslagern zurückhaltend aus. Von der Ermordung der NS-Opfer, dem Schicksal der KZ-Überlebenden ist nur selten die Rede. Über einen Besuch im ehemaligen KZ Struthof schreibt Lasky:
    "Ich stöbere in verlassenen Büros, fand einige Reste von SS-Schriftstücken, Bestellungen für Chemikalien. Jetzt war Struthof ein französisches Internierungslager. Die satanischen Zellen wurden natürlich abgerissen, aber das Gebäude bleibt ein trostloses düsteres Loch, auch wenn es von noch so viel Naturschönheit umgeben ist."
    Vernichtend fällt Laskys Urteil zur amerikanischen Militärgeschichtsschreibung und damit zu seiner eigenen offiziellen Tätigkeit aus. Er bescheinigt seiner Abteilung Verworrenheit und Inkompetenz, eine Neigung zur Schönfärberei und Verfälschung der Tatsachen.
    "Unerträglich ist die schreckliche Farce, an der unsere sogenannte Historische Abteilung beteiligt ist. Neulich redigierte der Colonel die Manuskripte der letzten Zeit und bestand dabei auf ein halbes Dutzend Änderungen: "Dieses Bataillon kann unmöglich auf dieser Route vormarschiert sein, wir schicken es einfach durch die Wälder. Sie können doch nicht beide Kompanien gleichzeitig angreifen lassen, und: Es ist mir egal, ob es wirklich so war."
    Laksy beschreibt hier eine Frühform des "embedded journalism", der militärisch kontrollierten Front-Berichterstattung, wie die Amerikaner sie im Irakkrieg 2003 praktizierten. Was in den heroischen Darstellungen der US-Armee nicht auftaucht, was aber Melvin Lasky in seinem Tagebuch festhält, sind die sinnlosen Gefechte mit einem längst besiegten Feind, denen viele junge GIs zum Opfer fallen, die überflüssigen Bombenabwürfe auf bereits zerstörte Städte, das unrechtmäßige Erschießen deutscher Verdächtiger, die Plünderungen sowie die zahllosen Affären zwischen amerikanischen Soldaten und deutschen "Fräuleins". Melvin Lasky ist da keine Ausnahme.
    "Auf der Straße deutsche Mädchen, die Zigaretten offensichtlich amerikanischer Herkunft rauchten. Der Fahrer grinste wissend: Ein Päckchen, eine Nummer ... Am Abend das übliche Abenteuer. Christy, am Neckar. Ins Hotel und eine erfreuliche, leidenschaftliche Nacht."
    Was die Aufzeichnungen nur andeuten, ist Laskys Wandel von einem sozialkritischen jungen Mann zu einem eingefleischten Antikommunisten, der angewidert den Personenkult um Stalin in Ost-Berlin beobachtet und das Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht und ihrer deutschen kommunistischen Bundesgenossen vehement verurteilt. Im Sommer 1946 quittierte er seinen Militärdienst, blieb im besetzten Berlin und entwickelte sich zu einem intellektuellen Protagonisten des Kalten Krieges. Die Mischung aus eigenem Erleben, persönlichen Eindrücken, einfühlsamen Beobachtungen und politischem Urteil machen Melvin Laskys deutsches Tagebuch aus dem Jahr 1945 zu einer anregenden Lektüre.
    Buchinfos:
    Melvin J. Lasky: "Und alles war still. Deutsches Tagebuch 1945", Übersetzung: Christa Krüger; Henning Thies, Rowohlt Verlag, 496 Seiten, Preis: 24,95 Euro, ISBN: 978-3-871-34708-5